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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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bin zu alt, um ein neues Leben zu beginnen.«
    »Was für eine Wahl hast du denn?«, fragte sie. »Man hat dir deine Stellung genommen, dein Vermögen, dein Haus. Und jetzt nehmen sie dir deinen Sohn.«
    »Du bist eine Träumerin«, sagte er.
    »Es wäre schön, wenn du mit Elza sprechen würdest. Bis zum Jahresende werden sie auch dich zum Arbeitsdienst eingezogen haben. Dann bleiben Elza und Mutter ganz allein zurück.«
    György fuhr mit den Daumen über den Rand seiner Schreibtischunterlage. Ein Stoß Dokumente lag vor ihm, ein dickes Bündel, auf glänzendes Kohlepapier gedruckt. »Siehst du das hier?«, fragte er und schob die Papiere von sich. »Das sind die Unterlagen, durch die das Haus an einen neuen Besitzer übergeht.«
    »An wen denn?«, wollte Klara wissen.
    »An den Sohn des Justizministers. Seine Frau hat gerade das sechste Kind bekommen, wie ich gehört habe.«
    »Du lieber Gott«, sagte Klara. »Dann wird das Haus ein Schlachtfeld.«
    »Wo werdet ihr wohnen?«, fragte Andras.
    »Ich habe ein Quartier für uns in einem Wohnhaus am Anfang der Andrássy út gefunden – eigentlich ist es ziemlich prächtig, war es jedenfalls mal. Laut diesen Unterlagen dürfen wir alle Möbel mitnehmen, die wir noch haben.« Mit einer ausholenden Armbewegung wies er auf den entleerten Raum.
    »Rede bitte mit Elza«, sagte Klara.
    »Sechs Kinder in diesem Haus«, sagte György seufzend. »Was für eine Katastrophe.«
    General Martóns Antwort kam schnell und drückte viel Verständnis aus, dennoch war die Qintessenz des Schreibens, dass er nicht viel Spielraum habe. Sein Vorschlag war, József einen Platz in der 79/6 zu sichern. Als Andras das las, hatte er das Gefühl, persönlich bestraft zu werden. Dies war die Strafe für die kurze Genugtuung, die er empfunden hatte, als er von Józsefs Einberufung erfuhr. Jetzt stand József jeden Morgen an der Bushaltestelle in Óbuda und sah in seiner allzu sauberen Uniform und seiner unversehrten Militärmütze wie ein Offizier aus. Er wurde der Arbeitsgruppe von Andras und Mendel zugeteilt, musste mit den übrigen Zwangsarbeitern Güterwagen beladen. In der ersten Woche schaute er Andras bei jeder Gelegenheit finster an, als sei das alles dessen Schuld, als sei Andras persönlich für die Blasen an Józsefs Händen und Füßen, für die Schmerzen in seinem Rücken, den blätternden Sonnenbrand verantwortlich. Er wurde von den Vorarbeitern hart rangenommen wegen seiner Weichlichkeit, seiner Faulheit; als er sich wehrte, trat Faragó ihn zu Boden und spie ihm ins Gesicht. Danach verrichtete József seine Arbeit ohne jeden weiteren Kommentar.
    Aus dem Juni wurde Juli, und eine trockene Periode ging zu Ende. Jeden Nachmittag riss der Himmel auf und ließ süß schmeckenden Regen auf die Eintönigkeit von Szentendre fallen. Die gelben Backsteine der Bahnhofsgebäude dunkelten zu einem Graubraun. Auf den Anhöhen jenseits des Flusses schüttelten die Bäume, die starr im Staub gestanden hatten, ihre Blätter ab und warfen ihre Äste in den Wind. Unkraut und Wildblumen zwängten sich zwischen den Bahnschwellen hervor, und eines Morgens ging eine Froschplage über den Bahnhof hernieder. Wohin man auch trat, hockten Tiere, wer weiß woher gekommen. Münzgroß und selleriefarben hüpften sie wie wahnsinnig geworden in Richtung Fluss. Zwei Tage lang brachten die Frösche die Männer zum Fluchen und Tanzen, dann verschwanden sie so plötzlich, wie sie gekommen waren. Es war die Jahreszeit, die Andras als Kind geliebt hatte, wenn man im Mühlteich schwimmen konnte, sonnenwarme Erdbeeren direkt vom Strauch in den Mund stopfte, wenn man sich im Schatten des langen, kühlen Grases versteckte und zusah, wie die Ameisen ihrem schnellfüßigen Geschäft nachgingen. In Szentendre gab es nur die immer gleiche Mühsal des Verladebahnhofs und die Hoffnung auf die Flucht. Nachts, in Andras’ wenigen Stunden zu Hause, hielt er seinen schlafenden Sohn im Arm, während Klara ihm aus den Büchern von Bialik, Brenner oder Herzl vorlas, Beschreibungen von Palästina und der wundersamen Verwandlung, die die Siedler dort bewerkstelligten. In Gedanken sah Andras seine Familie bereits umgesiedelt inmitten von Orangenhainen und Bienen, die Kindheit seines Sohnes in salzschwangerer Luft, in weiter Ferne das schimmernde Bronzeschild des Meeres. Andras versuchte, nicht zu viel über die unvermeidlichen Schwierigkeiten der Reise nachzudenken. Not und Elend waren ihm genauso wenig fremd wie Klara. Selbst seine

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