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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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dünnen Tenor Siessetek! und fragte sich laut, warum er mit solchen Schnecken, solchen Schildkröten geschlagen war.
    Mitten im Entladen, als noch die Waren von fünf Versorgungslastern in den Zug umgepackt werden mussten, trat ein Adjutant von Varsádi an Andras’ Gruppe heran und nahm Faragó beiseite. Kurz darauf rief Faragó Andras und Mendel von ihrer Arbeit ab. Offenbar wollte der Kompaniekommandeur in seinem Büro mit ihnen sprechen.
    Mendel und Andras tauschten einen Blick aus: Das hat nichts zu sagen. Kein Grund zur Sorge.
    »Hat der gesagt, um was es geht?«, fragte Mendel, obwohl es nur eins gab, um das es gehen konnte, nur einen Grund, warum der Kommandeur die beiden in sein Büro rufen würde.
    »Das erfahrt ihr schon früh genug«, sagte Faragó und dann zum Adjutanten: »Sorgen Sie dafür, dass sie sofort zurückkommen, wenn Varsádi mit ihnen fertig ist. Ich kann sie nicht lange entbehren.«
    Der junge Adjutant des Majors führte sie über das Bahnhofsgelände zum flachen Backsteinbau. Eine Gruppe bewaffneter Soldaten stand im Vorzimmer stramm, die Gewehre an die Schulter gelehnt. Ihre Augen bewegten sich zu Andras und Mendel, als sie eintraten, ansonsten verharrten die Männer reglos wie Skulpturen. Ein Offiziersbursche leitete Andras und Mendel in Varsádis Büro und schloss die Tür hinter ihnen. Varsádis Uniformhemd war trotz der Hitze glatt, seine Augen schmal hinter einer Halbmondbrille. Auf seinem Schreibtisch lag, wie Andras erwartet hatte, die komplette Serie der Schiefen Bahn .
    »So«, sage Varsádi und glättete die Blätter vor sich. »Ich mache es kurz. Ihr wisst, dass ich euch und eure Zeitung mag. Sie hat die Männer zum Lachen gebracht. Aber momentan ist es leider nicht – ähm – angebracht, sie herumgehen zu lassen.«
    Andras war einen Moment lang verwirrt. Er hatte geglaubt, bei diesem Treffen ginge es um den Widerstand, den Mendel und er hervorgerufen hatten; das beschleunigte Arbeitstempo, die veränderte Behandlung durch die Vorarbeiter hatte in diese Richtung gewiesen. Doch Varsádi beschuldigte sie nicht, Aufrührer zu sein. Er wollte sie offenbar nur bitten, die Zeitung einzustellen.
    »Herumgehen tut das Blatt eigentlich nicht, Herr Major«, sagte Mendel. »Nicht über die 79/6 hinaus.«
    »Sie haben fünfzig Exemplare von jeder Ausgabe gedruckt«, sagte Varsádi. »Die Männer nehmen sie mit nach Hause. Ein paar Zeitungen könnten ihren Weg hinaus in die Stadt finden. Und dann die Sache mit dem Druck, mit den Platten und den Originalen. Diese Zeitung wirkt professionell. Ich weiß, dass ihr nicht zu Hause Abzüge mit der Kurbel macht.«
    Andras und Mendel tauschten einen kurzen Blick aus, und Mendel sagte: »Wir vernichten die Druckplatten jede Woche, Herr Major. Die Abzüge sind alles, was es gibt.«
    »Mir ist bekannt, dass Sie beide bis vor Kurzem beim Jüdischen Journal angestellt waren. Wenn wir uns dort erkundigten oder umsähen, würden wir dann vielleicht fündig werden?«
    »Sie können suchen, wo Sie möchten«, sagte Mendel. »Da gibt es nichts zu finden.«
    Aus traumähnlicher Ferne beobachtete Andras, wie der Kommandeur seine Schreibtischschublade öffnete, einen kleinen Revolver hervorholte und ihn locker in der Hand wog. Das Gehäuse der Waffe war samtschwarz, der Lauf stupsnasig. »Hier kann es kein Vertun geben«, sagte Varsádi. »Fünfzig Abzüge von jeder Ausgabe. Das sind genug Unbekannte in dieser Gleichung. Ich brauche Ihre Originale und die Druckplatten. Ich muss wissen, wo das alles aufbewahrt wird.«
    »Wir haben immer alles vernichtet …«, setzte Mendel erneut an, doch zuckte sein Blick zur Waffe.
    »Sie lügen«, sagte Varsádi sachlich. »Das gefällt mir nicht, nach all der Nachsicht, die ich euch gegenüber habe walten lassen.« Er drehte die Waffe und fuhr mit dem Daumen über den Hahn. »Ich muss die Wahrheit wissen, dann können Sie gehen. Sie haben diese Zeitung beim Jüdischen Journal gedruckt. Finden wir dort die Originale? Ich frage Sie, meine Herren, weil mir sonst nichts anderes mehr einfällt, als bei Ihnen zu Hause zu suchen. Und ich würde Ihre Familien lieber nicht stören.« Die Worte hingen im Raum zwischen ihnen, während Varsádi mit dem Daumen über seinen Revolver rieb.
    Andras sah alles vor sich: Die Wohnung auf der Nefelejcs utca geplündert, jede Zeitung, jedes Buch zu Boden geworfen, jeder Schrank geleert, das Sofa aufgeschlitzt, die Wände und Bodenbretter aufgerissen. Sämtliche Vorbereitungen für die

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