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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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wippte von den Fußballen auf die Fersen; er betrachtete die Regentupfer auf dem Rücken seines Vordermanns. Im Kopf ging er durch, was er in den nächsten Tagen noch alles erledigen musste: abschließend packen, die Listen mit Kleidungsstücken und Vorräten abhaken, die Koffer verschnüren, die Wohnung auf der Nefelejcs utca verlassen, sich um Mitternacht bei Tibor treffen, zu der Stelle nördlich der Elisabethbrücke gehen, wo ein Boot auf sie wartete, sich dem feuchten dunklen Versteck anvertrauen, wo sie sich zusammendrängen würden, während das Schiff in die Strömung glitt. In Gedanken war er bereits dort, so tief im Laderaum des Donaukahns versteckt, dass er das Brummen der Lastwagen auf der Straße anfangs gar nicht bemerkte. Er spürte ein tiefes Vibrieren im Brustbein und dachte: noch mehr Donner . Doch das Grummeln hielt an und wurde lauter, und als Andras schließlich aufschaute, erblickte er einen Konvoi aus sechs Lastwagen, voll besetzt mit ungarischen Soldaten. Die Laster dröhnten durch das Tor des Verladebahnhofs, ihre Reifen wirbelten den trockenen Staub unter der regenfeuchten Straßenoberfläche auf. Sie parkten auf dem nackten Streifen zwischen den Schienen und dem Offiziersgebäude. Die Soldaten auf den Ladeflächen trugen Gewehre mit Bajonetten; Andras sah die Klingen in der olivgrünen Düsternis unter den Lkw-Planen blitzen. Als die Laster hielten, sprangen die Soldaten auf den schlammigen Schotter, die Waffen locker seitlich am Körper. Die Offiziere im ersten Wagen gingen in den flachen Backsteinbau, die Tür schloss sich hinter ihnen.
    Die Arbeitsdienstler beäugten die Soldaten. Es mussten mindestens fünfzig sein. Da ihre Vorgesetzten im Hauptquartier beschäftigt waren, lehnten die Soldaten ihre Gewehre gegen die Laster und steckten sich Zigaretten an. Einer von ihnen holte ein Kartenspiel hervor und teilte Pokerkarten aus. Eine andere Gruppe versammelte sich um eine Zeitung, während ein Soldat laut die Überschriften verlas.
    »Was ist hier bloß los?«, fragte der Mann neben Andras, ein großer Kahlkopf, der den Spitznamen »Elfenbeinturm« bekommen hatte. Er war Professor für Geschichte an der Universität gewesen; wie Zoltán Novak war er zum Arbeitsdienst eingezogen worden, um eine Quote unter jüdischen Geistesgrößen zu erfüllen. Er war erst kurz beim Munkaszolgálat und hatte noch nicht gelernt, dessen Mysterien und Widersprüche schulterzuckend hinzunehmen.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Andras. »Wir werden es schon erfahren.«
    »Ruhe im Glied!«, rief ein Wachmann.
    Das Warten ging weiter. Einige Wachleute näherten sich den Soldaten, um Zigaretten und Neuigkeiten auszutauschen. Einige von ihnen schienen sich zu kennen. Sie schlugen sich auf den Rücken und gaben sich die Hand. Eine weitere halbe Stunde verging, doch immer noch kam niemand aus dem Hauptquartier. Schließlich erlaubte der Hauptmann des Wachdienstes den Arbeitsmännern, sich zu rühren. Sie könnten essen oder rauchen, wenn sie wollten. Andras und Mendel setzten sich auf eine feuchte Bahnschwelle und öffneten ihre Zinkeimer, József zog ein schmales Lederetui aus seiner Brusttasche und nahm eine Zigarette heraus.
    Kurz darauf ging die Tür des Backsteinbaus auf, und die Offiziere traten heraus – zuerst die Armeeoffiziere in ihren steifen Uniformen mit den Messingknöpfen, dann die den Arbeitern vertrauten Munkaszolgálat-Offiziere, die sie in Szentendre von Anfang an befehligt hatten. Varsádis Oberleutnant blies in eine Pfeife und befahl den Arbeitsdienstlern, wieder strammzustehen. Zuerst gab es ein raschelndes Durcheinander, als die Männer den Rest ihres Mittagessens verstauten. Dann rief der Feldwebel seine Befehle: Die Männer sollten sich bei den Versorgungslastern aufstellen und die Ware so schnell wie möglich zu den Güterwagen bringen.
    Wenn die Soldaten nicht gewesen wären, deren Bajonette himmelwärts staken, als wollten sie die Bäuche der tief hängenden Wolken aufschlitzen, hätte alles wie ein ganz normaler Nachmittag in Szentendre gewirkt. Die 79/6 trug Kisten mit Munition über denselben Schotter, den sie schon tausendmal überquert hatte. Falls die Wachen die Männer fester an die Kandare nahmen, falls die Offiziere ihre Kommandos schriller brüllten, so war das wohl nur die Fortsetzung des strengeren Umgangstons, der schon die ganze Woche unter den Befehlshabenden geherrscht hatte. Faragó, ihr Vorarbeiter, pfiff keine einzige Broadwaymelodie; stattdessen schrie er in seinem

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