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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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ins Gefängnis gesteckt oder umgebracht worden? Hatte die Arbeitsdienstverwaltung ihr eine Auskunft gegeben oder geschwiegen? Aller Wahrscheinlichkeit nach wusste Klara noch immer nichts. Und was war mit Varsádis Drohung? Würde er sich damit zufriedengeben, wenn seine Leute die Originale der Schiefen Bahn in Epplers Büro fanden, oder würde er darauf bestehen, auch Andras’ Wohnung zu durchsuchen?
    Im Zug wurde unablässig spekuliert, wohin sie fuhren und was sie am Ende der Reise erwartete. Die vorherrschende Meinung lautete, bei der Versetzung der Kompanie sei ein Fehler gemacht worden. Eigentlich hätten sie am Monatsende nordwestlich nach Esztergom fahren sollen, um dort auf einem anderen Verladebahnhof zu arbeiten. Die Anweisungen mussten vertauscht worden sein. Bald würde man den Irrtum bemerken, dann würden sie in einen Zug nach Westen gesteckt werden. Doch das erklärte weder, warum Soldaten nach Szentendre geschickt worden waren, um die Männer in den Zug zu verladen, noch warum man sie mit so großer Eile fortgebracht hatte. Elfenbeinturm, der ehemalige Geschichtsprofessor, hatte eine andere Theorie: Er war der Meinung, sie würden nach Osten gebracht, weil sie alle Zeugen eines Verbrechens gewesen seien: der schleichenden, systematischen Abzweigung von Gütern im Wert von Millionen Pengő für den Schwarzmarkt. Die Regierung habe einen Feldzug gegen Unterschlagung beim Militär begonnen, sagte Elfenbeinturm. Das Veruntreuen von Gütern, die für den Gebrauch an der Front bestimmt sind, würde jetzt als Verrat gelten, auf den die Todesstrafe stand. Unter den Kommandeuren der Arbeitsdienst-Kompanien, den schlimmsten Missetätern von allen, habe sich Panik breitgemacht. Sie könnten sich nicht darauf verlassen, dass die jüdischen Arbeitsmänner für die Unschuld von Offizieren bürgten, von denen sie täglich misshandelt worden waren; deshalb hätte man sie aus dem Weg räumen müssen, vielleicht sogar an die Ostfront.
    József hatte schreckliche Angst. Andras konnte es sehen. Er sprach kaum. Er blieb für sich, betastete vorsichtig sein Gesicht, wo Varsádi ihn geschlagen hatte. Er schlief nie, soweit Andras das beurteilen konnte; die ganze Nacht saß er da, sortierte und packte die wenigen Gegenstände in seinem Bündel um. Er machte keine Witze. Er verweigerte das Munkaszolgálat-Essen, knabberte lieber an einer Challa-Kruste, ein Rest seines letzten Mittagessens, das er nach Szentendre mitgenommen hatte. Zuerst weigerte er sich, den gemeinsamen Toilettenkübel in der Ecke zu benutzen; als er schließlich doch nicht mehr anders konnte, sah er anschließend aus, als sei er verprügelt worden.
    Der Tag wurde zur Nacht, und der Zug fuhr weiter. Es gab keinen Halt, um Essen oder Wasser aufzunehmen. Es gab keine Erlösung von der Hitze. Die Männer konnten sich nicht hinlegen; es war nicht genug Platz. Sie konnten nur abwechselnd auf dem Boden sitzen oder das Gesicht zum Fenster heben. Der kurze Zeitraum, in dem sie frische Luft atmen konnten, brachte eine gewisse Erleichterung. Doch am vierten Tag konnte niemand mehr den penetranten Gestank und den zehrenden Durst ignorieren, und Andras begann sich zu fragen, ob der wahre Sinn dieser Reise darin bestand, sie mit dem Zug herumzufahren, bis sie verdursteten. Im Nebel seiner Dehydrierung kam er zu dem Schluss, es sei seine Schuld, dass sie in diesem nach Osten fahrenden Zug gefangen waren. Die Schiefe Bahn hatte, wie hintergründig auch immer, die Bedeutung Szentendres für den Schwarzmarkt dokumentiert; die Zeitschrift hatte jedem Arbeitsdienstler, der zu blind oder naiv war, um es selbst zu erkennen, die Situation dargelegt und mochte die Vorgänge durchaus über Szentendre hinaus bekannt gemacht haben. Klara hatte recht gehabt; er war ein aberwitziges, unnötiges Risiko eingegangen. Die Zeitung mochte nur ein schlanker Baum in einem Wald belastender Beweise sein, aber sie war nicht zu leugnen. Varsádi hatte sie für wichtig genug gehalten, um ein persönliches Gespräch mit Andras und Mendel zu führen, wichtig genug, um sie mit einer Waffe zu bedrohen. Wenn die Auflage von fünfzig Exemplaren nicht jede Woche unter den Männern herumgereicht worden wäre, vielleicht bis in die Stadt, hätte Varsádi sich dann von einem laschen Pichelbruder in einen Mann verwandelt, der bereit war, eine ganze Kompanie an die Front zu schicken, nur um seine eigene Haut zu retten?
    Am Nachmittag fuhren sie durch einen Regenguss in felsiges Hügelland. Andras stand am

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