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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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erschossen.«
    Der Major brüllte einen Befehl; die Soldaten schlossen ihre Reihen noch enger um die Arbeiter und schoben sie auf die Güterwaggons zu. Andras war zwischen Mendel und József eingeklemmt. Hinter ihnen gab es ein Gedränge. Sie hatten keine andere Wahl, als hineinzuklettern. Durch das einzige hohe Fenster konnte Andras die Soldaten in einer Reihe um die Waggons stehen sehen, stumpf schimmerten ihre Bajonette vor dem marmorierten Himmel. Immer mehr Arbeitsdienstler wurden in die Waggons gepfercht, bis sie fast keine Luft mehr bekamen. Andras atmete feuchtes Segeltuch, Haaröl und Schweiß ein, den Geruch der morgendlichen Arbeit, versetzt mit einem Schuss Panik. Sein Herz pochte in seinem Brustkorb, und sein Hals war zugeschnürt vor Angst. Klara war jetzt zu Hause, packte die letzten Sachen. In einer Stunde würde sie anfangen, auf die Uhr zu sehen. Er musste aus diesem Zug heraus. Er würde sich krank stellen; er würde Schmiergeld anbieten. Mit den Ellenbogen schob er sich zurück zur Tür, doch ehe er das Rechteck aus Licht erreichte, ertönte von draußen ein Ruf. Daraufhin das Rattern der zugeschobenen Türen, das Herabsinken der Dunkelheit, der Klang einer Kette auf Metall, das unverkennbare Klicken eines Vorhängeschlosses.
    Kurz darauf stieß der Zug ein gleichgültiges Pfeifen aus. Durch die Holzdielen, durch die Sohlen der Sommerstiefel und die Knochen der Beine drang ein dunkles, mechanisches Zittern, der erste knirschende Ruck der Bewegung. Die Männer fielen gegeneinander, gegen Andras; ihr Gewicht schien schwer genug, um das Herz in seiner Brust zum Stillstand zu bringen. Und dann fand der Zug seinen Rhythmus und trug sie durch das Nordtor des Verladebahnhofs Szentendre einem Ziel entgegen, das keiner von ihnen kannte.

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    FÜNFTER TEIL

    Durch Feuer

34.
Turka
    NACHDEM ANDRAS SICH VOR PROTEST heiser geschrien und jede Hoffnung auf Flucht hatte fahren lassen, fiel er in den Tagen und Nächten im Zug in eine Art Schockstarre. Stundenlang stand er mit Mendel am kleinen hohen Fenster und sah zu, wie die Welt draußen vorbeizog, ein Katalog des Unmöglichen. Ein Motorrad verhöhnte ihn mit der Vorstellung einer hastigen Flucht. Eine Straße mit der Freiheit, ihr heim zu Klara zu folgen. Ein Postwagen könnte ihr einen Brief bringen. An den Lichtverhältnissen las Andras ab, dass sie nach Nordosten fuhren. Das hätte er auch daran gemerkt, dass es bergauf ging. Durch Gyöngyös und Füzesabony kletterten sie hinauf ins nördliche Hochland; manchmal kroch der Zug nur, dann wieder hielt er stundenlang an. Bei jedem Halt dachte Andras, sie würden nun zu ihrem neuen Einsatzplatz geführt. In der zweiten Nacht wurden ihnen tatsächlich befohlen, den Zug zu verlassen. Sie wurden in ein leeres Lagerhaus gebracht, in dem früher offenbar der Rotwein jener Gegend gelagert wurde, der Egri Bikavér, Ochsenblut. In der Luft lag der süße Eichenholzgeruch der Weinfässer; auf dem Boden sah man verblichene violette Ringe. Zwei Armeeköche versorgten die Zwangsarbeiter mit einer dünnen Kohlsuppe und mickrigen Stücken harten dunklen Brots, die vertraute Munkaszolgálat-Kost. In einer Ecke des Lagerhauses standen sie Schlange, um sich an einem Wasserhahn zu waschen. Sie durften nicht miteinander sprechen, nicht nach draußen gehen, nicht mal zum Pinkeln; dafür stand ein Fass bereit. Die Lagerhaustür war verschlossen, das Gebäude wurde von Soldaten bewacht. Am Morgen wurden sie wieder in den Zug gepfercht und weiter nach Osten befördert.
    Es war der dritte Tag ihrer Reise. Am nächsten Morgen hätte er eigentlich nach Palästina einschiffen sollen. Was würde Klara jetzt tun? Er wusste, dass es zwecklos war zu hoffen, sie würde ohne ihn aufbrechen. Was mochte sie zwei Abende zuvor gedacht haben, als es immer später wurde, ohne dass er nach Hause kam? Andras stellte sich vor, wie sie sich über die Koffer beugte, die Sachen für den Kleinen einpackte, auf die Uhr auf der Kommode schaute; er stellte sich ihre leichte Sorge vor, als die übliche Stunde seiner Rückkehr verstrich – hatte er noch zum letzten Mal etwas mit Mendel in Budapest trinken oder ein letztes Mal durch die vertrauten Straßen spazieren wollen? Das Essen, das sie zubereitet hatte, musste in der Küche kalt geworden sein. Sie hatte Tamás ins Bett gebracht, und als aus acht Uhr neun Uhr wurde und aus neun Uhr zehn, wurde ihre Sorge zu Angst.
    Was glaubte sie wohl, das ihm zugestoßen sein mochte? Ob sie dachte, er sei

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