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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Palästinareise den prüfenden Blicken der Offiziellen ausgesetzt. Und Klara, zusammengekauert in einer Ecke oder an den Handgelenken festgehalten – wie? Von wem? –, während der Kleine schreit. Wieder schaute Andras Mendel an und erkannte, dass Mendel dasselbe Bild vor Augen gehabt und sich entschieden hatte. Wenn Andras nicht die Wahrheit sagte, würde es Mendel tun. Tatsächlich ergriff er nun das Wort.
    »Die Originale lagern beim Journal «, sagte er. »Eins von jeder Ausgabe in einem Aktenschrank im Büro des Chefredakteurs. Da muss keine Familie gestört werden. Zu Hause haben wir nichts aufbewahrt.«
    »Sehr gut«, sagte Varsádi. Er legte den Revolver in die Schublade zurück. »Mehr brauche ich im Moment nicht von Ihnen. Wegtreten!«, sagte er und winkte mit der Hand zur Tür.
    Sie bewegten sich wie durch eine zähe Flüssigkeit, schauten einander nicht an. Sie hatten Frigyes Eppler in Gefahr gebracht, seine Person, seine Stellung; das wussten sie beide. Was die Folgen sein würden oder welchen Preis Eppler würde zahlen müssen, vermochte niemand zu sagen. Draußen stellten sie fest, dass die gesamte Kompanie zum Sammelplatz geführt worden war, wo sie unruhig die Grundstellung eingenommen hatte. Als Andras an seinen Platz in der Reihe ging, warf József ihm einen fragenden, neugierigen Blick zu. Aber es war keine Zeit, ihn aufzuklären; anscheinend würde die angekündigte Inspektion nun beginnen. Die am Morgen eingetroffenen Soldaten hatten sich am Rande des Versammlungsplatzes aufgestellt, die Offiziere, die die Besprechung mit Varsádi geführt hatten, standen an der Spitze des Verbands. Als Andras über den Schotter zum Ende des Feldes schaute, stellte er fest, dass auch dort Soldaten Aufstellung genommen hatten. Vor Varsádis Hauptquartier: Soldaten. An den Gleisen hinter ihnen: noch mehr Soldaten. Plötzlich wurde ihm klar: Die 79/6 war zusammengetrieben worden, eingekesselt. Die Soldaten, die eben noch mit den Wachleuten geraucht und gelacht hatten, standen jetzt stramm, die Hände am Gewehr, den Blick starr auf jene gefährliche militärische Mitteldistanz, aus der man einen Menschen nicht mehr erkennen konnte.
    Varsádi kam aus dem flachen Backsteinbau, den Rücken durchgedrückt, seine Abzeichen blitzten in der Nachmittagssonne. »Aufstellen in Reih und Glied!«, befahl er. »Marschformation!«
    Andras mahnte sich, ruhig zu bleiben. Sie waren eine halbe Stunde von Budapest entfernt. Sie waren hier nicht im Délvidék. Es war gut möglich, dass Varsádi ihnen lediglich einen Schreck einjagen, seine Macht demonstrieren, seine lasche Führung vergessen machen wollte. Auf seinen Befehl hin marschierte die 79/6 vom Sammelplatz entlang den Gleisen zum Südtor des Verladebahnhofs. Die Soldaten hielten die Reihen um den Block von Arbeitsmännern eng geschlossen. Als sie am Ende der Güterwaggons ankamen, blieben sie stehen.
    Drei leere Wagen, an den Seiten geschmückt mit dem Emblem des Munkaszolgálat, waren an das Ende des Zuges gekoppelt worden. Über den schmalen hohen Fenstern waren Eisenstangen angebracht. Die Türen standen erwartungsvoll offen. Weit vorn, hinter den gerade beladenen Wagen, stieß eine Lokomotive braunen Qualm aus.
    »Stillgestanden, Männer!«, rief Varsádi. »Ihr Marschbefehl ist geändert worden. Ihre Arbeitskraft wird an anderer Stelle benötigt. Wir werden sofort aufbrechen. Ihr Einsatz unterliegt ab sofort der Geheimhaltung. Wir können Ihnen keine weiteren Informationen geben.«
    Die Männer brachen in ungläubige Protestrufe aus, es erhob sich lautstarkes Geschrei.
    »Ruhe!«, schrie der Kommandeur. »Ruhe! Auf der Stelle!« Er hob seine Pistole und schoss in die Luft. Die Männer verstummten.
    »Entschuldigen Sie, Herr Major«, sagte József. Er war nur wenige Meter von Andras entfernt, so nah, dass Andras sah, wie eine kleine Ader an seiner Schläfe pochte. »Soweit ich weiß, steht im Pflichtenhandbuch des KMOF , dass wir über jede Versetzung eine Woche im Voraus unterrichtet werden müssen. Und wenn ich das erwähnen darf: Wir verfügen kaum über das notwendige Versorgungsmaterial.«
    Major Varsádi machte einen Schritt auf József zu, die Pistole in der Hand. Er umfasste ihren kurzen Lauf und schlug József zweimal kurz mit dem Kolben ins Gesicht. Ein heller, stotternder Blutpfeil landete auf der Schulter von Andras’ Uniform.
    »Hören Sie auf meinen Rat und halten Sie den Mund«, sagte Varsádi. »Da, wo Sie hinkommen, werden Sie schon für weniger

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