Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
Vom Netzwerk:
Heilige Land sehen.«
    »Dann schau’s dir an. Aber dort leben? Wir sind Ungarn, keine Beduinen aus der Wüste.«
    »Wir lebten in einem Stammesverband, ehe wir Ungarn wurden«, warf Tibor ein. »Vergiss das nicht.«
    »Entschuldige, Herr Doktor«, sagte József. Er nannte Tibor gerne »Herr Doktor«, so wie er Andras gerne mit »Onkel« ansprach. »Und davor waren wir Jäger und Sammler in Afrika. Also könnten wir doch gleich das Heilige Land hinter uns lassen und in den dunkelsten Kongo laufen.«
    »József«, mahnte György.
    »Bitte tausendmal um Entschuldigung, Vater. Du hättest lieber, dass ich den Mund halte. Aber es ist ganz schön schwer, der einzig Gesunde in diesem Irrenhaus zu sein.«
    Béla rutschte auf seinem schmalen Stuhl herum, spürte, wie der Stadtanzug an seinen Schultern spannte. Am liebsten hätte er den jüngeren Hász an den Schultern gepackt und geschüttelt. Er fragte sich, wie es der junge Mann wagen konnte, so flapsig über das zu sprechen, was Andras und Tibor und ihren Frauen und Söhnen bevorstand. Wenn einer seiner Jungen so geredet hätte, wäre Béla von seinem Stuhl aufgestanden und hätte ihm eine gesalzene Strafpredigt gehalten, auch vor den Gästen. Allerdings hätte er nie ein Kind großgezogen, das sich so aufführte. Weder er noch Flóra. Sie legte die Finger auf sein Handgelenk, als könne sie seine Gedanken lesen; er wunderte sich nicht darüber, dass sie ihn verstand. Jeder konnte sehen, dass dieses Bürschchen unerträglich war. Wenigstens hatte Klaras Mutter streng mit ihm geredet. Béla betrachtete sie über den Tisch hinweg, diese ernste, grauäugige Frau, die ihr Kind schon einmal verloren und zurückbekommen hatte und nun trotz der Aussicht, die Tochter abermals gehen lassen zu müssen, ein stoisches Gesicht machte. Sie hatte gute Kinder großgezogen, diese Frau. Inzwischen wunderte er sich nicht mehr über die Beziehung zwischen Andras und Klara; er wusste, dass sie aus dem gleichen Holz geschnitzt waren, in welchem Luxus Klara als Kind auch immer gelebt haben mochte. Hier war sie, saß seelenruhig mit dem Baby auf dem Arm da und vermittelte den Eindruck, als würde sie bald eine Reise aufs Land machen, nicht über einen gefährlichen Fluss und ein U-Boot-verseuchtes Meer. Béla nahm sich vor, diesen stillen Blick von ihr, diese strahlende Ruhe in sich aufzunehmen; in den vor ihm liegenden Tagen und Wochen würde er sich gerne daran erinnern wollen.
    Jene Woche, ihre letzte in Budapest, war die heißeste des ganzen Sommers. Am Donnerstag stank es im Bus nach Szentendre schon um sechs Uhr morgens nach Schweiß; es war eine Witterung, die Andras’ Mutter gombás idő nannte – Pilzwetter. Ein dunstiger Wind blies von der Donau herüber. Vögel warfen sich in die feuchte, stürmische Luft, und die Bäume am anderen Ufer ließen die weißen Unterseiten ihrer Blätter aufblitzen. Die ganze Woche über waren die Befehlshabenden in Szentendre offenbar nicht richtig auf dem Damm gewesen. Dieselben Vorarbeiter, die das allmähliche Verlangsamen beim Verladen nicht bemerkt hatten, trieben die Arbeiter nun unbarmherzig an. Schlechte Laune schien sich wie ein Fieber im Lager ausgebreitet zu haben. Im Hauptquartier hatte es Streitigkeiten zwischen Major Varsádi und den Schwarzmarkt-Inspektoren gegeben, woraufhin Varsádi einen seltenen Zornesausbruch vor seinen Feldwebeln bekommen hatte; die Feldwebel hatten es die Wachleute und Vorarbeiter büßen lassen, und im Gegenzug fluchten die Vorarbeiter über die Arbeitsmänner, traten und schlugen sie mit doppeltem Packseil auf Rücken und Beine.
    Am Morgen sollten sie sich vor Arbeitsbeginn zur Inspektion aufstellen. Die Männer waren vorher angewiesen worden, dass Uniformen und Ausrüstung in tadellosem Zustand zu sein hätten. Ab sieben Uhr mussten sie scheinbar endlos neben den Gleisen strammstehen. Es begann zu regnen, ein Getrommel dicker, schwerer Tropfen, die den Stoff der Kleidung durchdrangen. Das Warten nahm kein Ende; die Wachen schritten die Reihen ab, ebenso gelangweilt wie ihre Unterstellten.
    »Was für eine Zeitverschwendung!«, sagte József. »Warum schicken sie uns nicht einfach nach Hause?«
    »Hört, hört«, sagte Mendel. »Lasst uns laufen!«
    »Ruhe da, alle beide«, rief ein Wachmann.
    Andras behielt den flachen Backsteinbau im Blick, in dem Varsádis Hauptquartier untergebracht war. Durch ein beschlagenes Fenster konnte er erkennen, dass der Kommandeur sich einen Fernsprecher ans Ohr hielt. Andras

Weitere Kostenlose Bücher