Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Gruppenbildung, keine Verbrüderung mit den Wachleuten, keine Taschenmesser, kein Rauchen, kein Horten von Wertsachen, kein Einkaufen in den Geschäften im Ort, keinen Handel mit der örtlichen Bevölkerung. Ihre Angehörigen würden bald über ihre Versetzung informiert werden, aber es dürfe keinerlei postalische Kommunikation zwischen der 79/6 und der Außenwelt geben – keine Pakete, keine Briefe, keine Telegramme. Aus Sicherheitsgründen müssten sie immer ihre Armbinden tragen. Ohne die entsprechende Identifizierung könnte man mit dem Feind verwechselt und erschossen werden.
Horvath teilte sie brüllend in fünf Kolonnen auf und ließ sie wieder auf die Straße marschieren; sie sollten sofort zu ihrem Einsatzort aufbrechen. Die Straße war aus tiefem, saugenden Schlamm. Als es hell wurde, sah Andras, dass sie sich in einem breiten Flusstal zwischen dicht bewaldeten Hügeln befanden. In der Ferne erhoben sich die schartigen grauen Gipfel der Karpaten. Wolken lagen auf den Abhängen, ließen Nebel ins Tal schweben. Die vom Regen angeschwollene Stryj rauschte an steilen braunen Ufern vorbei. Nach kurzer Zeit spürte Andras den Anstieg der Straße im Rücken und in den Oberschenkeln. Immer wieder spulte er die Liste von Verboten in seinem Kopf ab: kein elektrisches Licht nach Einbruch der Dunkelheit, keine postalische Kommunikation. Keine Möglichkeit, Klara ein Wort zukommen zu lassen. Keine Möglichkeit zu erfahren, was mit ihr passiert war, mit Tibor, Ilana und Ádám oder mit Mátyás, falls sie jemals Nachricht über ihn bekämen. Bei den früheren Arbeitseinsätzen waren es Klaras Briefe gewesen, die ihn vor der Verzweiflung bewahrt hatten; das Bedürfnis, Es geht mir gut zu schreiben, hatte dafür gesorgt, dass es ihm – relativ zumindest – gut ging. Wie sollte er es aushalten, sich nicht mitzuteilen, besonders nach dem, was passiert war? Er würde einfach eine Möglichkeit finden müssen, Klara eine Nachricht zukommen zu lassen, egal welche Folgen das hatte. Er würde jemanden bestechen oder Schuldscheine unterschreiben, wenn es sein müsste. Er würde Briefe schreiben, und seine Briefe würden zu ihr gelangen. Inmitten jener unermesslichen Unsicherheit, die ihn umgab, war er sich dessen sicher.
Es waren zehn Kilometer bis zum Einsatzort; dort bekamen sie Hacken und Schaufeln in die Hand gedrückt und wurden in zwanzig Gruppen à sechs Personen eingeteilt. Jede Gruppe hatte zwei Schubkarrenfahrer und vier Schaufler. Hunderte dieser Gruppen schaufelten Erde und fuhren sie weg, ebneten das Straßenbett für Kies und Asphalt. Eine lange, geebnete Straße führte zurück nach Turka; eine Spur roter Messpunkte war in der grünen Weite zwischen der Einsatzstelle und Skhidnytsya abgesteckt. Aufseher schlichen zwischen den Gruppen umher und schlugen mit dünnen Holzruten auf die Rücken und Beine der Arbeiter.
Sie schufteten fünf Stunden ohne Pause. Mittags bekamen sie winzige Brocken derart sandigen Brotes, dass es mit Sägemehl gebacken worden sein musste, dazu eine Schöpfkelle wässriger Rübensuppe. Dann arbeiteten sie bis zur Dämmerung und marschierten im Dunkeln nach Hause. Im Waisenhaus gab der Kompaniekoch jedem von ihnen eine Tasse Zwiebelbrühe. Sie mussten sich auf dem Hof aufstellen und drei Stunden strammstehen, bis Kozma sie zum Schlafen in ihre Kinderbetten schickte. So sah der Ablauf ihres neuen Lebens aus.
Andras hatte ein Bett oben am Fenster, Mendel das neben ihm, über Elfenbeinturm. József schlief in dem Bett unter Andras. In der ersten Woche im Waisenhaus konnte Andras hören, wie József sich stundenlang auf den harten Holzlatten herumwälzte. Jedes Mal, wenn er sich drehte, schubste er Andras von der Schwelle des Schlafs. In der fünften Nacht hätte Andras ihn am liebsten erwürgt. Er wollte nichts anderes als schlafen, damit er nicht darüber nachdenken musste, wo er war und warum. Aber József ließ das nicht zu. Er drehte und wälzte sich, immer wieder, stundenlang, endlos.
»Hör endlich auf!«, zischte Andras. »Schlaf jetzt!«
»Fahr zur Hölle!«, flüsterte József.
»Fahr selber zur Hölle!«
»Ich bin schon in der Hölle«, sagte József. »Ich werde hier sterben. Ich weiß es.«
»Irgendwann müssen wir alle sterben«, bemerkte Mendel im Nachbarbett.
»Ich bin jähzornig und bei schlechter Gesundheit«, sagte József. »Ich entscheide mich oft falsch. Früher oder später widerspreche ich einem, der eine Waffe trägt.«
»Du bist jetzt seit zwei Monaten beim
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