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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Arbeitsdienst«, sagte Andras. »Und du lebst immer noch.«
    »Wir sind nicht in Szentendre«, sagte József.
    »Dies ist wie Szentendre, nur mit schlechterem Essen und einem hässlicheren Kommandeur.«
    »Herrgott noch mal, Lévi, hörst du nicht zu? Ich brauche Hilfe!«
    »Ruhe da!«, sagte jemand.
    Andras kletterte nach unten und setzte sich auf Józsefs Bettkante. Er erkannte Józsefs Augen im Dunkeln. »Was ist denn?«, flüsterte er. »Was willst du?«
    »Ich möchte nicht sterben, bevor ich dreißig bin«, flüsterte József zurück, und seine Stimme brach wie die eines kleinen Jungen. Er fuhr sich mit der Hand über die Nase. »Ich bin hierauf nicht vorbereitet. Ich habe in den letzten fünf Jahren nichts anderes getan als essen, trinken, bumsen und malen. Ich werde das Arbeitslager nicht überleben.«
    »Natürlich überlebst du es. Du bist jung und gesund. Du schaffst das schon.«
    Lange schwiegen sie, lauschten dem Atem der Kameraden um sie herum. Die Geräusche von fünfzig schlafenden Männern: Es war wie die Streicherabteilung eines Orchesters, die mit saitenlosen Geigen, Bratschen und Cellos spielte, ein endloses schschsch von Pferdehaar auf Holz. Hin und wieder unterbrach ein quäkendes Niesen oder blechernes Husten das gleichmäßige Atmen; doch die saitenlose Musik spielte weiter, ein stetes Seufzen im Dunkeln.
    »Das ist alles?«, sagte József schließlich. »Mehr hast du nicht zu bieten?«
    »Mal ganz ehrlich«, sagte Andras. »Ich habe momentan nicht viel Kraft für aufmunternde Worte.«
    »Ich will keine Aufmunterung«, flüsterte József. »Ich will wissen, wie man überlebt. Du machst das jetzt schon seit fast drei Jahren. Hast du keinen Rat für mich?«
    »Na, zum einen: Gib keine subversive Zeitung heraus«, erwiderte Andras. »Sonst könnte es sein, dass dein Kommandeur über seinen Schreibtisch hinweg mit einer Waffe auf dich zielt.«
    »Das hat er gemacht?«, fragte József. »Was wollte er denn?«
    »Unsere Druckplatten und die Originale. Er drohte damit, unsere Häuser zu durchsuchen, wenn wir sie ihm nicht gäben.«
    »Oh, Gott! Was habt ihr ihm gesagt?«
    »Die Wahrheit. Die Originale sind im Büro unseres Chefredakteurs beim Jüdischen Journal . Oder besser gesagt: Sie waren da. Inzwischen sind sie mit Sicherheit bei Varsádi.«
    József atmete tief aus. »Da wird euer Chefredakteur aber einen schlechten Arbeitstag gehabt haben.«
    »Ich weiß. Ich war schon ganz krank deswegen. Aber was hätten wir tun sollen? Wir konnten nicht zulassen, dass Varsádi seine Leute in die Nefelejcs utca schickt.«
    »In Ordnung«, flüsterte József. »Ich werde mit Sicherheit keine subversive Zeitung herausgeben. Was noch?«
    Andras zählte József auf, was er gelernt hatte: den Mund halten. Sich unsichtbar machen. Sich keinen Kameraden zum Feind machen. Den Wachmännern nicht widersprechen. Essen, was man bekommt, egal wie schlecht es ist, und immer etwas für später aufheben. Sich so sauber wie möglich halten. Die Füße trocken halten. Auf die Kleidung achten, damit sie sich nicht auflöst. Herausfinden, welche Wachen Verständnis haben. Alle Vorschriften befolgen, die man ertragen kann; verletzt man sie: bloß nicht erwischen lassen. Das Leben zu Hause nicht vergessen. Nicht vergessen, dass der Dienst irgendwann zu Ende ist.
    Andras verstummte und dachte an die andere Liste, die er vor langer Zeit mit Mendel zusammengestellt hatte, die Zehn Gebote des Munkaszolgálat. War es erst drei Jahre her, dass er in die Karpatenukraine geschickt worden war? Nach wessen Maßstab konnte man die Dienstzeit als endlich bezeichnen? Auf einmal konnte er keine Sekunde länger darüber sprechen oder nachdenken. »Ich muss jetzt schlafen«, sagte er.
    »Gut«, sagte József. »Aber hör mal: danke.«
    »Schnauze, ihr Idioten!«, flüsterte Mendel aus dem Nachbarbett.
    »Gern geschehen«, sagte Andras. »Und jetzt schlaf.«
    Er kletterte hoch in sein Bett und wickelte sich in seine Decke. József gab keinen Laut mehr von sich; auch das Herumwälzen war vorbei. Doch Andras lag wach und lauschte dem Atem der anderen. Er erinnerte sich an ruhige Nächte wie diese, am Anfang seines ersten Arbeitsdiensteinsatzes. Nicht mehr lange, und keiner von ihnen würde mehr tief und fest schlafen können; irgendjemand würde immer husten oder stöhnen oder zur Latrine laufen, sie würden von Läusen und dem dumpfen, ekelerregenden Schmerz des Hungers gequält werden. Oder von mitternächtlichen Aufmärschen, wenn Kozma danach

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