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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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gewesen war.
    Während der August verstrich, wurde langsam klar, dass der Vermesser sich bald einen neuen Assistenten würde suchen müssen. Er war zu alt, um seine Ausrüstung allein zu tragen; er brauchte Hilfe, falls die Straße nach Skhidnytsya abgesteckt sein sollte. Wenn der Vermesser an den Arbeitsgruppen vorbeikam, begann er sich zu erkundigen: Ob jemand Mathematik beherrsche? Ob jemand Ingenieurswesen studiert habe? Ob ein Zeichner unter ihnen sei oder ein Architekt? Beim Mittagessen sah man, wie er eine Liste der Zwangsarbeiter und ihrer ehemaligen Berufe durchging und jemanden suchte, der ihm von Nutzen sein könnte.
    Als Andras, Mendel und der Rest ihrer Gruppe eines Morgens an einem Straßenabschnitt arbeiteten, der von Asphaltbrocken befreit werden musste, kam der Vermesser hinter Major Kozma herangeschlurft. Als sie Andras’ Gruppe erreichten, blieb der Major stehen und wies mit dem Daumen auf Andras.
    »Der da«, sagte er. »Lévi, Andras. Macht nicht gerade viel her, aber hat offenbar eine Ausbildung.«
    Der Vermesser spähte auf seine Liste. »Sie haben Architektur studiert«, sagte er.
    Andras zuckte mit den Schultern. Es schien gar nicht mehr wahr zu sein.
    »Wie lange haben Sie studiert?«
    »Zwei Jahre. Auch ein Kurs in Ingenieurswesen.«
    »Gut«, sagte der Vermesser und seufzte. »Das reicht.«
    Mendel, der zugehört hatte, drängte sich dichter an Andras heran; er sah dem Vermesser in die Augen und sagte: »Er will das aber nicht machen.«
    Im Nu schoss Major Kozmas Hand zur Reitgerte in seinem Gürtel. Er beäugte Mendel mit seinem gesunden Auge. »Hat jemand mit dir geredet, du Ratte?«
    Kurz zögerte Mendel, sprach dann aber weiter, als müsse man keine Angst vor dem Major haben. »Die Arbeit ist gefährlich, Herr Major. Lévi ist Ehemann und Vater. Nehmen Sie jemanden, der weniger zu verlieren hat.«
    Die Narbe des Majors wurde feuerrot. Er zog die Gerte aus dem Gürtel und schlug Mendel quer übers Gesicht. »Erzähl du mir nicht, wie ich meine Kompanie zu führen habe, Ratte«, sagte er, und dann zu Andras: »Her mit den Arbeitspapieren, Lévi!«
    Andras tat, wie ihm geheißen.
    Kozma holte einen Fettstift aus seiner Uniformtasche und notierte etwas auf dem Papier, einen Vermerk, dass Andras von nun an direkt dem Vermesser unterstellt war. Während er schrieb, holte Andras ein zerknülltes Taschentuch aus der Tasche und reichte es Mendel, über dessen Wange sich eine Blutspur zog; Mendel drückte das Taschentuch darauf. Der Vermesser beobachtete die beiden und schien die Beziehung zwischen ihnen zu verstehen. Er räusperte sich und gab Kozma ein Zeichen.
    »Nur eine Überlegung«, sagte er. »Wenn Sie gestatten, Herr Major.«
    »Was denn noch?«
    »Könnten Sie mir den auch noch geben?« Er wies mit dem Daumen auf Mendel. »Der ist groß und stark. Der kann die Ausrüstung tragen. Und wenn es etwas Gefährliches zu tun gibt, kann ich das von ihm erledigen lassen. Ich will nicht noch einen guten Assistenten verlieren.«
    Kozma schürzte seine gespaltenen Lippen. »Sie wollen beide haben?«
    »Nur so eine Idee, Herr Major.«
    »Sie sind ein gieriger kleiner Jude, Szolomon.«
    »Die Straße muss vermessen werden. Mit zweien geht es schneller.«
    Inzwischen war ein weiterer Offizier an die Arbeitsgruppe herangetreten. Es war der Hauptvorarbeiter, ein Oberst der Reserve vom königlich-ungarischen Ingenieurskorps. Er verlangte, den Grund für die Verzögerung zu erfahren.
    »Szolomon möchte, dass diese beiden Männer ihm beim Vermessen helfen.«
    »Na, dann nehmen Sie sie endlich. Wir können es uns nicht leisten, die Männer so lange herumstehen zu lassen.«
    Und so wurden Andras und Mendel die neuen Assistenten des Landvermessers, Erben der Stellung des Jungen, den es in Stücke gerissen hatte.
    Tagsüber vermaßen sie den Verlauf der Straße zwischen Turka und Yavora, zwischen Yavora und Novyi Kropyvnyk, zwischen Novyi Kropyvnyk und Skhidnytsya. Sie erlernten die Mysterien des Vermessungsinstruments, des Theodolits; der Vermesser brachte ihnen bei, wie man ihn auf dem Stativ befestigte und mit Lotblei und Wasserwaage kalibrierte. Er zeigte ihnen, wie man das Gerät nach dem rechtweisenden Norden ausrichtete und die optische Achse mit der Horizontalachse in Übereinstimmung brachte. Er lehrte sie, die Landschaft in geometrischen Formen wahrzunehmen: Ebenen, die von anderen Ebenen im spitzen Winkel geschnitten wurden, alles messbar, begreiflich, einleuchtend. Die zerklüfteten Hügel waren

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