Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
zumute war. Der Munkaszolgálat war wie eine chronische Krankheit, dachte Andras – seine Symptome ließen manchmal nach, doch er kehrte immer wieder zurück. Als Andras den Dienst in Transsilvanien angetreten hatte, hatte er sich genauso gefühlt wie József heute, hatte er diese abgrundtiefe Ungerechtigkeit empfunden. Das konnte doch unmöglich mit ihm geschehen, nicht mit ihm und Klara, nicht mit seinem Kopf, nicht mit seinem Körper, dieser robusten, treuen Maschine. Er konnte nicht fassen, dass all die drängenden Probleme seiner Zeit in Paris – alles, was wichtig gewesen war, sein Studium, jedes Projekt, jeder Augenblick mit Klara, jedes Geheimnis, jede Sorge um Geld, Unterricht, Arbeit oder Nahrung – in Kisten verstaut waren, ihres Zusammenhangs beraubt, unsinnig geworden, klein geworden waren, dem Unmöglichen überantwortet, in einen Raum gestopft, der zu klein war, um Leben zuzulassen. Und dennoch war Andras an diesem Tag, als er zur Arbeit marschiert war, Erde geschaufelt hatte, das grässliche Essen vertilgt und durch den Schlamm zurückgeschlurft war, nicht empört gewesen; er hatte kaum etwas empfunden. Er war nur noch ein Tier auf dieser Erde, eines von Milliarden. Dass er eine glückliche Kindheit in Konyár gehabt hatte, zur Schule gegangen war, Zeichnen gelernt hatte, nach Paris gezogen war, sich verliebt, dort studiert und gearbeitet hatte, dass er einen Sohn hatte – nichts davon war ein Vorzeichen für das gewesen, was in Zukunft geschehen würde; es war eigentlich Glückssache. Nichts davon war eine Belohnung, genauso wenig wie der Munkaszolgálat eine Strafe war; nichts davon berechtigte ihn zu einer glücklichen oder angenehmen Zukunft. Überall auf der Welt litten Männer und Frauen. Hunderttausende waren bereits im Krieg umgekommen, er selbst würde vielleicht hier in Turka sterben. Andras nahm an, die Chancen dafür ständen ziemlich gut. Nur wenige Dinge hatte er selbst in der Hand; er war ein Partikel des Lebens, eine Flocke menschlichen Staubs, verloren am Ostrand Europas. Er wusste, dass eine Zeit kommen würde, sie vielleicht gar nicht so fern war, in der es ihm schwerfallen würde, die Regeln zu befolgen, die er gerade für József aufgestellt hatte.
Denk immer an Klara, sagte er sich. Denk an Tamás. Und an die Eltern, an Tibor und Mátyás. Er musste sich einreden, dass es nicht hoffnungslos war; er musste sich selbst zum Überleben verleiten. Er musste aus sich einen bereitwilligen Mitspieler im hinterlistigen Trickspiel der Liebe machen.
Am Ende von Andras’ zweiter Woche in Turka starb der Assistent des Straßenvermessers bei der Explosion einer Landmine. Es geschah am Kopf einer neuen Straße, einige Kilometer von Andras’ Einsatzort entfernt, doch die Nachricht verbreitete sich schnell von Gruppe zu Gruppe. Der Vermessungsassistent war einer von ihnen gewesen, ein Zwangsarbeiter. Er hatte dem Vermesser geholfen, die Straße durch ein sowjetisches Minenfeld zu legen. Das Feld war Monate zuvor von einer anderen Arbeitskompanie geräumt worden, doch die hatte ihre Aufgabe wohl nicht schnell genug für erledigt erklären können. Der Assistent war auf die Mine getreten, als er den Dreifuß aufstellte. Er war auf der Stelle tot.
Auch der Vermesser war vom Arbeitsdienst, ein Ingenieur aus Szeged. Andras hatte ihn auf dem Weg zu seinem Einsatzort schon öfter vorbeigehen sehen. Er war klein und blass, trug eine randlose Brille und einen buschigen grauen Schnauzbart; seine Uniformjacke war genauso verschlissen wie die der anderen, seine Stiefel waren mit Lumpen umwickelt, damit sie nicht auseinanderfielen. Doch da seine Tätigkeit für die Armee so wichtig war, hatte er eine offizielle Mütze und ein Abzeichen an der Brusttasche seines Mantels. Er durfte im Ort einkaufen und Zigaretten rauchen. Und er wurde zum Dolmetschen herangezogen: Er beherrschte Polnisch, Russisch und sogar ein wenig Ukrainisch und konnte mit den galizischen Bauern in ihrer Muttersprache reden. Sein Assistent, ein schmaler, schwarzäugiger Junge, der nicht älter als zwanzig gewesen sein konnte, war sein stummer Schatten gewesen. Nach dem Tod des Jungen zerriss der Vermesser seinen Ärmel in Trauer und rieb sich Asche ins Gesicht. Mit einem Gesichtsausdruck zerstreuter Verzweiflung schleppte er seine Ausrüstung zur Vermessungstelle und zurück. Der Junge sei wie ein Sohn für ihn gewesen, sagten alle; später erfuhr Andras, dass er tatsächlich der Sohn vom besten Freund des Vermessers aus Szeged
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