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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Überlebenden hatten riesengroße Löcher ausheben müssen, um ihre Kameraden zu begraben; durch den Regen war die aufgeworfene Erde in die Grube zurückgerutscht. Jene Arbeitskompanie hatte nicht mehr hinterlassen als die Knochen ihrer Toten – kein Hinweis, kein Werkzeug, nicht die geringste Annehmlichkeit für die Männer der 79/6. Andras und die anderen kampierten auf dem verschlammten Sammelplatz, und am nächsten Tag wurden sie in einem halben Kilometer Entfernung im Haupthaus und den Nebengebäuden eines leeren jüdischen Waisenhauses untergebracht.
    Das Gebäude war aus Hohlblocksteinen gebaut, der Kalkanstrich grün vor Schimmel. Die Einrichtung des Haupthauses war für Kinder gedacht. Die Betten waren skurril kurz. Man konnte nur auf ihnen liegen, wenn man die Knie an die Brust zog. Die Waschbecken hatten laufendes Wasser, was einem kleinen Wunder glich, aber sie waren so tief angebracht, dass man sich beinahe davorknien musste, um sich das Gesicht zu waschen. Der Speisesaal war mit Bänkchen und niedrigen Tischen eingerichtet; auf den Fluren waren noch die Kratzspuren von Absätzen und die Abdrücke von schmutzigen Schuhen zu sehen. Ansonsten war von den ehemaligen Bewohnern nichts zurückgeblieben. Jeder Fetzen Kleidung, jeder Schuh, jedes Buch, jeder Löffel war entfernt worden, als hätte es die Kinder nie gegeben.
    Der neue Kommandeur war ein fleischiger schwarzhaariger Magyar, dessen Gesicht von einem auffälligen Narbenwulst zweigeteilt wurde. Er verlief bogenförmig von der Mitte der Stirn bis zur Kinnspitze, begrub das rechte Augenlid unter sich, wich der Nase um einen Millimeter aus und schlitzte die Lippen in vier ungleiche Teile. Das lidlose rechte Auge verlieh seinem Gesicht den Anstrich immerwährenden Staunens oder Entsetzens, so als habe der ursprüngliche Schock über die Verletzung nie nachgelassen. Der Kommandeur hieß Kozma. Er kam aus Győr. Er besaß einen grauen Wolfshund, den er abwechselnd trat und streichelte, und einen Leutnant namens Horvath, den er auf dieselbe Weise behandelte. Am ersten Morgen in Turka ließ Kozma die Kompanie auf dem Hof des Waisenhauses antreten und im Laufschritt fünf Kilometer die Straße hinunter zu einem feuchten Feld marschieren, wo ungleichmäßiges Gras über einen langen, zugeschütteten Graben gewachsen war. Hier waren die Kinder des Waisenhauses aufgestellt und erschossen worden, erklärte ihnen der neue Kommandeur, und hier würden auch sie erschossen werden, wenn sie für die ungarische Armee nicht länger nützlich seien. Ihre Hundemarken kämen vielleicht zurück nach Hause, aber sie niemals; sie seien schmutziger als Schweine, wertloser als Würmer, sie seien schon so gut wie tot. Fürs Erste würden sie aber mit der Kompanie zu den fünfhundert Zwangsarbeitern stoßen, die die Straße zwischen Turka und Stryj wieder aufbauten. Die alte Straße würde jedes Mal überflutet, wenn der Fluss Stryj über die Ufer trete. Die neue Straße würde über höher gelegenes Gelände verlaufen. Durch verminte Bereiche würden die Arbeiten ein wenig verzögert; gelegentlich müssten die Arbeiter die Felder räumen, bevor die Bauarbeiten fortgesetzt werden konnten. Sie hätten die Straße fertigzustellen, bevor der Schnee käme. Danach seien sie dafür verantwortlich, dass sie befahrbar bliebe. Orbán in der Schreibstube würde sich um ihre Soldbücher kümmern. Tolnay, der Sanitätsoffizier, würde sie behandeln, wenn sie krank wurden. Doch Drückeberger würden nicht geduldet. Tolnay habe strenge Anweisung, alles in seiner Macht Stehende zu tun, damit die Männer nicht bei der Arbeit fehlten. Sie hätten den Wachen und Offizieren in jeder Hinsicht zu gehorchen; Aufrührer würden bestraft, Deserteure erschossen.
    Als Kozma seine Rede beendet hatte, schlug er die Absätze zusammen, drehte seinen massigen Körper mit überraschender Behändigkeit und trat beiseite, damit sein Leutnant sich an die Kompanie wenden konnte. Leutnant Horvath sah aus wie zusammengefaltet; sein Körper und sein Gesicht waren wie ein Akkordeon zur schmaleren Version eines normalen Menschen zusammengepresst. Auf der Nase balancierte er eine Brille, er holte einen Block aus der Brusttasche. Nach Einbruch der Dunkelheit gäbe es kein elektrisches Licht, verkündete er in seinem dünnen Monoton, Briefe schreiben sei verboten, es gebe keinen Kantinenverkauf, wo sie ihre Vorräte aufstocken könnten, keine Ersatzuniformen, wenn ihre jetzigen zerrissen oder verschlissen seien, keine

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