Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Fenster. Hinter einem Nebelvorhang tauchte plötzlich eine gewaltige schwarze Silhouette auf: die Ruine einer mittelalterlichen Festung, eine zerklüftete Burg, die ihren schwarzen Bergfried in den Himmel reckte. Andras tippte Mendel auf die Schulter und zeigte sie ihm. Seine Brust zog sich zusammen, er hatte das Gefühl, vor langer Zeit von diesem Moment geträumt zu haben. Alles daran erschien ihm vertraut: das Geräusch der Räder auf den Schienen, die durchscheinende Dunkelheit im Waggon, der Gestank der zusammengepferchten Männer, der angenagte schwarze Umriss dieser Festung. Plötzlich hatte Andras einen metallischen Geschmack im Mund, auf seiner Haut prickelte ein Empfinden, verwandt mit Scham. Wie hatte er sich einreden können, dass Klara, Tamás und er, Tibor, Ilana und Ádám mittlerweile im Laderaum eines Donauschiffes versteckt wären, auf ihrem Weg nach Rumänien, wo sie an Bord eines Schiffes gehen würden, das sie nach Palästina brachte? Wie hatte er sich vormachen können, sie würden ein Meer voller feindlicher U-Boote sicher durchqueren, unversehrt Haifa erreichen und in einer der Siedlungen ein neues Leben beginnen, sie würden ihre Eltern nachholen, und er selbst würde mithelfen, die Knochen der jüdischen Heimat zusammenzufügen? Andras hatte sich sogar eingeredet, dass Mátyás lebendig und unbeschadet vom Arbeitsdienst zurückkehren und in Palästina zu ihnen stoßen würde. Doch diese Burg auf dem Hügel, der Nebel, der Zug: Irgendwie hatte er die ganze Zeit geahnt, dass es so kommen würde. Irgendwie hatte er geahnt, dass sie Budapest nie gemeinsam verlassen würden, dass sie es niemals aus Ungarn heraus und übers Mittelmeer schaffen würden. Er fragte sich, ob Klara das auch gewusst hatte. Wenn ja, wie hatten sie sich gegenseitig in ihrer Selbsttäuschung bestärken können?
Nun wurde ihm endlich klar, dass er seit Jahren notgedrungen die Tugend blinder Hoffnung gepflegt hatte. Sie war für ihn so selbstverständlich geworden wie das Atmen. Sie hatte ihn von Konyár über Budapest nach Paris gebracht, aus der einsamen Kälte seines Zimmers auf der Rue des Écoles in die schwere Wärme der Rue de Sévigné, aus der Verzweiflung des karpatischen Winters zur Vergissmeinnichtstraße im Erzsébetváros. Sie war das unvermeidliche Nebenprodukt der Liebe, das klare, kräftige Destillat des Vaterseins. Diese Hoffnung hatte ihn davor bewahrt, zu lange oder zu gründlich darüber nachzudenken, was mit Polaner, Ben Yakov oder seinem jüngeren Bruder geschehen sein mochte. Sie hatte ihn davon abgehalten, über die möglichen Folgen der Veröffentlichung einer Zeitung wie Die Schiefe Bahn nachzudenken. Sie hatte ihn vor der Vorstellung bewahrt, nach Osten in den Schlund des Krieges geschickt zu werden. Doch nun war er hier, und neben ihm stand Mendel Horovitz, und die Burg verschwand wieder im Nebel.
Der Zug fuhr immer weiter, unablässig bergan, in immer dünnere, trockenere Luft. Die brutale Hitze ließ langsam nach, und der Duft von Fichten zog durch das kleine hohe Fenster herein. Die Männer waren still, ausgetrocknet, schwach vor Hunger und Schlafmangel. Abwechselnd saßen und standen sie. Sie schwebten zwischen Schlafen und Wachen, ihre Beine schwankten im Rhythmus des Zuges, ihre Füße waren taub vom Vibrieren der Räder auf den endlosen Schienen. Als der Zug am fünften Tag an einem Bahnhof hielt, hatte Andras nur noch einen Gedanken, nämlich wie gut es sich anfühlen würde, sich auf dem Boden auszustrecken und zu schlafen. Von draußen hörten sie, wie die Tür losgekettet und zur Seite geschoben wurde; eine Welle frischer Luft ergoss sich in den stinkenden Waggon, und die Männer drängten hinaus auf den Bahnsteig. Durch den Nebel seiner Erschöpfung las Andras den Bahnhofsnamen: Typka . Ein Schnalzen am vorderen Gaumen, die geschlossenen Lippen um das - ka , die ungarische Verkleinerungsform. Ein Schock der Erleichterung durchlief ihn: Sie waren doch nicht an der Ostfront. Sie waren noch innerhalb der ungarischen Grenzen.
Typka . Ihm war nicht klar, dass er den Namen laut ausgesprochen hatte, bis Elfenbeinturm neben ihm den Kopf schüttelte und ihn berichtigte: »Turka«, sagte er. »Das sind kyrillische Buchstaben.«
Und so war es, denn sie waren in Ostgalizien – Reichskommissariat Ukraine.
Das Lager, in dem sie untergebracht werden sollten, war eine Woche zuvor bombardiert worden. Einhundertsiebzig Männer waren getötet, die Baracken dem Erdboden gleichgemacht worden. Die
Weitere Kostenlose Bücher