Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
eine Scheune zu einer Werkstatt mit hohen Fenstern umgebaut, durch die das Nordlicht hereinfiel. Dort arbeiteten sie noch alle, ihr Großvater, ihr Großonkel und ihr Nichtonkel, obwohl sie schon alt genug für die Rente waren. Sie als Enkelin durfte an den schrägen Zeichentischen sitzen und die tintenbeklecksten Utensilien benutzen. Sie malte gerne schiefe Eingänge, gebrochene Dachlinien, geschwungene Fassaden. Die Männer gaben ihr Bücher über die Architekten, bei denen sie gelernt hatten, Le Corbusier und Pingusson. Sie brachten ihr die lateinischen Bezeichnungen der Bögen bei und zeigten ihr, wie man Kurvenlineal und Stangenzirkel benutzte. Sie übten mit ihr die gradlinigen römischen Buchstaben, mit denen sie ihre Entwürfe beschrifteten.
Sie hatten den Krieg erlebt. Hin und wieder floss eine Bemerkung in ihre Unterhaltung ein: während des Krieges , und dann folgte eine Geschichte darüber, wie wenig sie zu essen gehabt, wie sie die Kälte überlebt, wie lange sie sich manchmal nicht gesehen hatten. Natürlich hatte das Mädchen in der Schule den Krieg durchgenommen – wer damals gestorben war, wer wen wie weshalb umgebracht hatte –, auch wenn in ihren Büchern nicht viel über Ungarn stand. Andere Dinge über den Krieg hatte sie gelernt, wenn sie ihrer Großmutter zusah, die Plastiktüten und Einmachgläser aufhob, für den Fall einer Katastrophe immer Wasserflaschen im Haus hatte und Torten mit nur halb so viel Butter und Zucker backte, wie im Rezept angegeben war, und die manchmal ohne Grund zu weinen begann. Und sie hatte von ihrem Vater über den Krieg gehört, der damals noch ein kleines Kind gewesen war, aber sich noch erinnern konnte, mit seiner Mutter durch Ruinen gelaufen zu sein.
Es gab Fragmente düsterer Geschichten. Das Mädchen wusste nicht, wo es sie gehört hatte; vielleicht hatte es sie über die Haut aufgenommen, wie Medizin oder Gift. Irgendetwas von Arbeitslagern. Irgendetwas mit Zeitungenessenmüssen. Etwas mit einer Krankheit, die von Läusen übertragen wurde. Selbst wenn sie nicht an diese bruchstückhaften Geschichten dachte, arbeiteten sie in ihrem Kopf. Vor einigen Wochen hatte sie einen Traum gehabt, aus dem sie schreiend vor Angst erwacht war. Darin stand sie mit ihren Eltern in einem kalten Raum mit schwarzen Wänden, und alle trugen Pyjamas aus Mehlsäcken. In einer Ecke kniete ihre Großmutter auf dem Betonboden und weinte. Ihr Großvater stand vor ihnen, abgemagert, unrasiert. Ein deutscher Wachmann trat aus dem Dunkel und hieß den Großvater, auf ein erhöhtes Förderband zu steigen, das an eine der Kofferausgaben am Flughafen erinnerte. Der Wachmann legte ihm Fesseln um Fußknöchel und Handgelenke, dann ging er zu einem Holzhebel neben dem Förderband und legte ihn um. Zahnräder griffen ineinander, Eisenzacken knirschten. Das Band begann sich zu bewegen. Ihr Großvater fuhr um eine Kurve und verschwand in einem leuchtenden Rechteck, aus dem ein ohrenbetäubender Knall kam, sodass alle wussten, er war tot.
Da hatte sie sich wach geschrien.
Ihre Eltern kamen in ihr Zimmer gelaufen. Was ist denn? Was ist?
Das wollt ihr nicht wissen.
An diesem Tag saß sie mit ihrem Notizblock und dem bitteren Kaffee im Hof des Museums; es war das erste Mal, dass sie seit ihrem Traum hier war. Es war ein tiefblauer Nachmittag, die Sonnenstrahlen fielen schräg in den Hof, erinnerten sie an die Wälder im Sommerlager. Doch sie musste unentwegt an das Förderband und den ohrenbetäubenden Knall denken. Sie konnte sich nicht auf den Brief an ihren Bruder konzentrieren. Sie konnte ihren Kaffee nicht trinken, nicht einmal tief durchatmen. Sie rief sich in Erinnerung, dass ihr Großvater nicht tot war. Ihre Großmutter war nicht tot. Auch ihr Großonkel und der Onkel, der nicht ihr Onkel war – sie alle lebten noch. Selbst ihr Vater hatte überlebt, ebenso seine Schwester, ihre Tante Április, die mittendrin geboren worden war.
Aber es gab auch den anderen Großonkel, der den Krieg nicht überlebt hatte. Er hatte eine Frau gehabt, und sein Sohn wäre jetzt genauso alt wie ihr Vater. Sie alle waren im Krieg gestorben. Ihre Großeltern sprachen fast nie darüber, und wenn sie es taten, senkten sie die Stimme. Ein Foto war alles, was von diesem Onkel übrig geblieben war, aufgenommen im Alter von zwanzig Jahren. Er sah gut aus, hatte ein energisches Kinn, schweres dunkles Haar und trug eine Brille mit Siberrahmen. Er sah nicht wie jemand aus, der mit dem Tod rechnete. Er sah aus, als
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