Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
es weitergehen würde.
»Und dann?«, fragte Elisabet. »Wie ging es weiter, nachdem er den Schnitt gesetzt hatte?«
»Ich denke, wir sind mit diesem Thema fertig«, sagte Andras.
»Nein, bitte! Ich möchte gerne den Rest hören, wo Sie schon damit angefangen haben.«
»Elisabet, es reicht jetzt«, sagte Madame Morgenstern.
»Aber es wird doch gerade erst interessant.«
»Ich habe gesagt, es reicht.«
Elisabet zerknüllte ihre Serviette und warf sie auf den Tisch. »Ich bin fertig«, sagte sie. »Du kannst ja bei deinem Gast sitzen bleiben und Fleisch essen. Ich gehe mit Marthe ins Kino.« Sie schob ihren Stuhl nach hinten und stand auf, stieß dabei fast Frau Apfel mit dem Wasserkrug um und stapfte durch den Flur davon. Man hörte sie in einem Zimmer herumfuhrwerken. Kurz darauf hallten ihre schweren Schritte über die Treppe. Die Tür zum Ballettstudio schlug zu, und die Fensterscheiben klirrten.
Am Esstisch legte Madame Morgenstern sich die Hand an die Stirn. »Ich muss mich entschuldigen, Monsieur Lévi«, sagte sie.
»Nein, bitte«, sagte er. »Es ist gut.« Allerdings tat es ihm überhaupt nicht leid, dass er mit Madame Morgenstern allein gelassen wurde. »Machen Sie sich wegen mir keine Gedanken«, sagte er. »Das war ein furchtbares Gesprächsthema. Ich bitte um Verzeihung.«
»Das ist nicht nötig«, sagte Madame Morgenstern. »Elisabet ist manchmal unmöglich, das ist alles. Wenn sie einmal böse auf mich ist, habe ich keine Chance mehr.«
»Warum sollte Elisabet böse auf Sie sein?«
Sie lächelte schwach und zuckte mit den Schultern. »Das ist leider sehr kompliziert. Sie ist sechzehn Jahre alt. Ich bin ihre Mutter. Sie möchte nicht, dass ich irgendetwas mit ihren gesellschaftlichen Angelegenheiten zu tun habe. Und ich darf sie auch nicht daran erinnern, dass wir Ungarn sind. Sie hält uns für ein rückständiges Volk.«
»So habe ich mich auch öfter gefühlt«, sagte Andras. »Ich habe viel Zeit damit verbracht, mit Gewalt französisch sein zu wollen.«
»Ihr Französisch ist übrigens hervorragend.«
»Nein, es ist schrecklich. Und es tut mir leid, dass ich die Meinung Ihrer Tochter, Ungarn seien Barbaren, nicht revidieren konnte.«
Madame Morgenstern verbarg ein Lächeln hinter ihrer Hand. »Sie waren ganz schön schlagfertig bei der Sache mit dem Schlachter«, bemerkte sie.
»Tut mir leid«, sagte Andras, aber er musste lachen. »Ich glaube, darüber habe ich noch nie beim Essen geredet.«
»Sie kannten den Metzger in Ihrer Stadt also wirklich«, sagte Madame Morgenstern.
»Natürlich. Und ich habe ihm auch bei der Arbeit zugesehen. Aber Elisabet hatte leider recht – es war grausam!«
»Aufgewachsen sind Sie – wo? Irgendwo auf dem Land?«
»In Konyár«, sagte er. »In der Nähe von Debrecen.«
»Konyár? Das ist keine zwanzig Kilometer von Kaba entfernt, wo meine Mutter geboren wurde.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht und war wieder fort.
»Ihre Mutter«, sagte er. »Aber sie lebt nicht mehr dort?«
»Nein«, sagte Madame Morgenstern. »Sie wohnt in Budapest.« Einen Moment lang verstummte sie, dann brachte sie das Gespräch zurück auf Andras’ Vergangenheit. »Sie sind also auch ein Hajduke. Ein Junge aus dem Tiefland.«
»Stimmt«, sagte er. »Mein Vater hat ein Sägewerk in Konyár.« Sie will also nicht über ihre Familie sprechen, dachte Andras. Er war kurz davor gewesen, den Brief zu erwähnen – zu sagen: Ich kenne Ihre Mutter –, doch jetzt war der Moment verstrichen, und irgendwie hatte die Aussicht, über Konyár zu sprechen, etwas Erleichterndes. Seit er in Paris eingetroffen war und genug Französisch gelernt hatte, um Fragen nach seiner Herkunft zu beantworten, hatte er allen erzählt, er stamme aus Budapest. Was wussten die Menschen schon von Konyár? Und für jene wie József Hász und Pierre Vago, die etwas mit dem Namen anfangen konnten, war Konyár ein kleines, rückständiges Dorf, ein Ort, dem entkommen zu sein man froh sein musste. Selbst der Klang war lächerlich – wie die Pointe eines anzüglichen Witzes, das Geräusch eines aus dem Kasten schnellenden Springteufels. Aber er kam nun mal aus Konyár, aus jenem Haus auf dem unbefestigten Grundstück an der Eisenbahntrasse.
»Mein Vater ist eine kleine Berühmtheit im Ort, um ehrlich zu sein«, sagte Andras.
»Tatsächlich? Wofür ist er denn bekannt?«
»Für sein unglaubliches Glück«, sagte Andras. Und dann, plötzlich mutig geworden: »Möchten Sie seine Geschichte hören, so
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