Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Tür hinter sich zu. Sie holen die Kälte rein.«
Er musste ihre Inspektion also bestanden haben; darüber war er froh, denn die Gerüche aus dem Haus machten ihn schwindelig vor Hunger. Andras trat in den Eingang, und die Frau rasselte einen Schwall in Ungarisch herunter, während sie ihm Mantel und Hut abnahm. Was für ein gewaltiger Blumenstrauß! Sie würde nachsehen, ob sie oben eine Vase fände, die groß genug wäre. Das Essen sei so gut wie fertig. Sie habe Kohlrouladen gemacht, sie hoffe, er möge das Gericht, denn ansonsten gebe es nichts außer Spätzle, einen Obstkompott, kalten Hühnchenaufschnitt und einen Walnussstrudel. Er solle mit ihr nach oben kommen. Sie heiße Frau Apfel. Gemeinsam stiegen sie empor in den ersten Stock, wo Frau Apfel ihn zu einem Salon führte, der mit abgetretenen türkischen Teppichen und dunklen Möbeln eingerichtet war; dort sollte er auf Madame Morgenstern warten.
Andras setzte sich auf ein graues Samtsofa und atmete tief durch. Neben dem berauschenden Geruch von Kohlrouladen nahm er den trockenen Zitronenduft von Möbelpolitur und einen schwachen Hauch Lakritze wahr. Auf einem kleinen gedrechselten Tisch vor ihm stand eine Schale mit Süßigkeiten, ein geschliffenes Kristallnest voll rosa- und lilafarbener Zuckereier. Er nahm eins und kostete: Anis. Andras rückte seine Krawatte zurecht und vergewisserte sich, dass man nicht die Baumwolle auf der Rückseite sah. Nach einer Weile hörte er klappernde Absätze im Flur. Ein schlanker Schatten huschte über die Wand, und ein Mädchen mit einer blauen Glasvase kam herein, bis zum Bersten gefüllt mit Blumen, Zweigen und künstlichen Drosseln. Die Taglilien wurden allmählich braun an den Rändern, die Rosen hingen schwer an ihren Stängeln. Über diese Masse verwelkender Blumen hinweg schaute das Mädchen Andras an. Das dunkle Haar lag ihr wie ein Flügel auf der Stirn.
»Danke für die Blumen«, sagte sie auf Französisch.
Als sie die Vase auf die Anrichte stellte, merkte Andras, dass sie gar kein Mädchen war; die Gesichtszüge hatten die ausgeprägtere Kantigkeit einer erwachsenen Frau, und sie hielt den Rücken so gerade, als tanze sie seit Jahrzehnten Ballett. Aber sie war klein und geschmeidig, ihre Hände auf der blauen Glasvase waren die eines Kindes. Andras ertrank in einer Woge aus Scham, als er zusah, wie sie den Strauß zurechtzupfte. Warum nur hatte er so viele halb tote Blumen mitgebracht? Warum diese Drosseln? Warum all diese Zweige? Warum hatte er nicht etwas Einfaches am Markt um die Ecke gekauft? Ein Dutzend Gänseblümchen? Einen Bund Lupinen? Wie viel hätte das schon gekostet? Die Waldnymphe lächelte ihm über die Schulter zu, dann gab sie ihm die Hand.
»Claire Morgenstern«, sagte sie. »Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen, Herr Lévi. Madame Gérard hat schon viel Gutes über Sie gesagt.«
Er nahm ihre Hand und versuchte, die Frau nicht anzustarren. Sie sah Jahrzehnte jünger aus, als er erwartet hatte. Er hatte mit einer Dame in Madame Gérards Alter gerechnet, doch diese Frau konnte kaum älter als dreißig sein. Sie besaß eine stille, beeindruckende Schönheit – zarte Knochen, einen Mund wie eine weiche Frucht mit rosa Haut, große, intelligente graue Augen. Claire Morgenstern: Dies also war das C. aus dem Brief, kein älterer Herr, der einst der Liebhaber von Frau Hász gewesen war. Die großen grauen Augen waren die der Dame in Schwarz, der stille Kummer, den Andras darin sah, war ein Spiegel des Ausdrucks im Blick der älteren Frau. Diese Claire Morgenstern musste ihre Tochter sein. Es dauerte eine Weile, bis Andras sprechen konnte.
»Ich bin die Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen«, stammelte er in hastigem, geschraubtem Französisch und merkte, dass es falsch war, kaum dass er es ausgesprochen hatte. Zu spät fiel ihm ein, sich zu erheben, und obwohl er nach den richtigen Worten suchte, stammelte er nur weiter. »Danke für die Einladung von mir«, brachte er hervor und setzte sich wieder.
Madame Morgenstern nahm neben ihm in einem tiefen Sessel Platz. »Möchten Sie lieber Ihre Muttersprache sprechen?«, fragte sie auf Ungarisch. »Wir können, wenn Sie möchten.«
Er schaute zu ihr auf wie vom Grund eines tiefen Brunnens. »Französisch ist in Ordnung«, sagt er auf Ungarisch. Und dann noch einmal auf Französisch.
»Also dann«, sagte sie. »Sie müssen mir erzählen, wie es in Ungarn inzwischen so ist. Ich bin seit Jahren nicht mehr dort gewesen, und Elisabet war
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