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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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überhaupt noch nie da.«
    Wie herbeigezaubert durch die Erwähnung seines Namens, kam ein großes, ernst aussehendes Mädchen ins Zimmer, in der Hand einen Krug mit Eistee. Es hatte breite Schultern wie die Schwimmer, die Andras am Palatinusstrand in Budapest bewundert hatte. Mit einem Blick ungeduldiger Verachtung füllte das Mädchen sein Glas.
    »Das ist meine Elisabet«, sagte Madame Morgenstern. »Elisabet, das ist Andras.«
    Andras konnte nicht fassen, dass dieses Mädchen die Tochter von Madame Morgenstern sein sollte. In Elisabets Händen sah der Krug aus wie ein Kinderspielzeug. Er trank seinen Tee und schaute von Mutter zu Tochter. Madame Morgenstern rührte ihren Tee mit einem langen Löffel um, während Elisabet, nachdem sie den Krug auf einem Tisch abgestellt hatte, sich in einen Ohrensessel fläzte und auf die Uhr schaute.
    »Wenn wir nicht sofort essen, komme ich zu spät zum Film«, sagte sie. »In einer Stunde bin ich mit Marthe verabredet.«
    »Was für ein Film?«, fragte Andras auf der Suche nach einem Gesprächsthema.
    »Würde Sie nicht interessieren«, sagte Elisabet. »Ist auf Französisch.«
    »Aber ich spreche Französisch«, sagte Andras.
    Elisabet grinste ihn trocken an. »Mä schö parl Fronzä«, sagte sie.
    Madame Morgenstern schloss die Augen. »Elisabet«, sagte sie.
    »Was ist?«
    »Das weißt du genau.«
    »Ich will einfach nur ins Kino«, sagte Elisabet und stieß die Fersen träge in den Teppich. Sie wies mit dem Kinn auf Andras und sagte: »Schöne Krawatte.«
    Andras sah an sich hinab. Als er sich vorgebeugt hatte, um sein Teeglas zu nehmen, war die Krawatte umgeschlagen, und jetzt schaute die Baumwollseite in die Welt, während die goldenen Rebhühner ungesehen gegen sein Hemd flatterten. Glühend vor Scham drehte er den Stoff um und senkte den Blick auf sein Glas.
    »Essen steht auf dem Tisch!«, sagte die rotgesichtige Frau Apfel im Türrahmen und schob ihr Kopftuch nach hinten. »Kommt, sonst werden die Kohlrouladen kalt.«
    Es gab ein richtiges Esszimmer mit Porzellanschränken aus poliertem Holz und einer weißen Decke auf dem Tisch: Echos des Hauses auf der Benczúr utca, dachte Andras. Aber hier wurden keine blutleeren Sandwiches serviert; der Tisch bog sich unter den Platten mit Kohlrouladen, Huhn und Schüsseln voller Spätzle, so als würden sie zu acht essen und nicht zu dritt. Madame Morgenstern nahm am Kopfende des Tisches Platz, Andras und Elisabet saßen einander gegenüber. Frau Apfel gab Kohlrouladen und Spätzle auf; Andras, dankbar für die Ablenkung, stopfte sich die Serviette in den Kragen und begann zu essen. Elisabet sah stirnrunzelnd auf ihren Teller. Sie schob die Kohlroulade beiseite und begann mit den Spätzle, aß eine kleine Nudel nach der anderen.
    »Ich habe gehört, Sie interessieren sich für Mathematik«, sagte Andras zum Scheitel von Elisabets gesenktem Kopf.
    Sie hob die Augen. »Hat meine Mutter das erzählt?«
    »Nein, Madame Gérard. Sie sagte, Sie hätten einen Wettbewerb gewonnen.«
    »Mathematik von der Oberschule kann doch jeder.«
    »Wollen Sie Mathematik studieren?«
    Elisabet zuckte mit den Achseln. »Wenn ich überhaupt studiere.«
    »Liebling, du kannst nicht von Spätzle allein leben«, sagte Madame Morgenstern leise mit einem Blick auf Elisabets Teller. »Du hast Kohlrouladen immer so gerne gemocht.«
    »Es ist grausam, Fleisch zu essen«, sagte Elisabet und nahm Andras ins Visier. »Ich habe gesehen, wie Kühe geschlachtet werden. Sie stechen ihnen ein Messer in den Hals und ziehen es nach unten, so, dann läuft das Blut heraus. Wir waren mit dem Biologiekurs bei einem Schochet. Das ist barbarisch.«
    »Nicht unbedingt«, sagte Andras. »Meine Brüder und ich kannten den koscheren Schlachter bei uns in der Stadt. Er war ein Freund unseres Vaters, und er war wirklich sanft zu den Tieren.«
    Elisabet musterte ihn aufmerksam. »Können Sie mir erklären, wie man eine Kuh sanft schlachtet?«, fragte sie. »Wie hat er das gemacht? Sie vielleicht zu Tode gestreichelt?«
    »Er hat die traditionelle Methode verwendet«, sagte Andras, und sein Ton fiel schärfer aus als beabsichtigt. »Ein rascher Schnitt quer über den Hals. Es kann dem Tier höchstens eine Sekunde Schmerzen bereitet haben.«
    Madame Morgenstern legte ihr Besteck beiseite und hielt sich die Serviette vor den Mund, als sei ihr schlecht, und in Elisabets Gesicht stahl sich ein verschlagener Triumph. Frau Apfel stand mit einem Wasserkrug in der Tür und wartete ab, wie

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