Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
genug Geld verdient, um das Sägewerk kaufen zu können. Er machte ein gutes Geschäft; die Menschen in Konyár brauchten zu jeder Jahreszeit Baumaterial und Brennholz. Bald wusste kaum noch jemand in Konyár, dass der Spitzname von Glücks-Béla einmal ironisch gemeint gewesen war. Die Geschichte hätte an dieser Stelle aufhören können, wäre der ukrainische Rabbiner nicht zurückgekehrt; es geschah zum Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, kurz vor den Hohen Feiertagen. Der Rabbiner verbrachte einen Abend im Haus von Glücks-Béla und fragte, ob er dessen Geschichte in der Synagoge erzählen dürfe. Es könne hilfreich für die Juden von Konyár sein, sagte er, wenn sie daran erinnert würden, was Gott für seine Kinder tue, die nicht vor der Verzweiflung kapitulierten. Glücks-Béla war einverstanden. Der Rabbiner erzählte die Geschichte, und die Juden von Konyár hörten zu. Obwohl Béla darauf bestand, sein Glück allein der Großzügigkeit anderer zu verdanken, begannen die Menschen, in ihm eine Art Heiligen zu sehen. Sie legten im Vorbeigehen die Hand auf sein Haus, damit das Glück auch sie begünstigte, und baten ihn, Pate ihrer Kinder zu sein. Alle glaubten, er habe eine Verbindung zum Göttlichen.
»Das müssen Sie als Kind auch gedacht haben«, sagte Madame Morgenstern.
»Allerdings! Ich dachte, er sei unbesiegbar – mehr noch, als es die meisten Kinder von ihren Eltern glauben«, erwiderte Andras. »Manchmal wäre mir lieber, ich hätte diese Illusion nie verloren.«
»Ich verstehe«, sagte sie lächelnd.
»Meine Eltern werden langsam alt«, sagte Andras. »Ich finde es schrecklich, sie mir allein in Konyár vorzustellen. Mein Vater hatte letztes Jahr eine Lungenentzündung und konnte einen Monat lang nicht arbeiten.« Darüber hatte er in Paris noch mit niemandem gesprochen. »Mein jüngerer Bruder geht auf eine Schule, die ein paar Stunden weit entfernt ist, aber er lebt sein eigenes Leben. Und jetzt zieht auch mein älterer Bruder fort, zum Medizinstudium nach Italien.«
Wieder huschte ein Schatten über Madame Morgensterns Gesicht, als verspürte sie einen inneren Schmerz. »Meine Mutter wird auch älter«, sagte sie. »Es ist lange her, dass ich sie gesehen habe, sehr lange.« Sie verstummte und wandte den Blick vom Tisch ab, schaute hinüber zu den hohen Westfenstern. Das späte Herbstlicht fiel als diagonale Fläche auf ihr Gesicht, beleuchtete die spitz zulaufende Rundung ihres Mundes. »Entschuldigen Sie«, sagte sie und versuchte zu lächeln; er reichte ihr sein Taschentuch, und sie drückte es auf ihre Augen.
Andras bekämpfte den unwillkürlichen Impuls, sie zu berühren, die geschwungene Linie von ihrem Nacken hinunter zum Rücken nachzufahren. »Vielleicht bin ich zu lange geblieben«, sagte er.
»Nein, bitte«, sagte sie. »Sie haben ja noch nicht einmal den Nachtisch gegessen.«
Als hätte Frau Apfel direkt hinter der Esszimmertür gelauscht, kam sie im selben Moment herein und servierte den Walnussstrudel. Andras merkte, dass er wieder Appetit bekommen hatte. Nein, er war wie ausgehungert. Er aß drei Stück Strudel und trank Kaffee mit Sahne. Dabei erzählte er Madame Morgenstern von seinem Studium, von Professor Vago, von der Fahrt nach Boulogne-Billancourt. Die Unterhaltung mit ihr war sehr viel angenehmer und leichter als mit der fahrigen, exaltierten Madame Gérard. Sie hatte eine gewisse Art, schweigend nachdenklich zu verharren, bevor sie antwortete; dann verzog sie grübelnd die Lippen, und wenn sie sprach, war ihre Stimme leise und ermutigend. Nach dem Essen gingen sie zurück in den Salon und sahen sich ein Album mit Ansichtskarten an. Ihre Tänzerfreunde waren bis nach Chicago und Kairo gereist. Es gab sogar eine handkolorierte Postkarte aus Afrika: drei Tiere mit aufwärtsgebogenen Hörnern und mandelförmigen Augen. Sie sahen aus wie Rehe, waren jedoch schlanker und eleganter. Das französische Wort für sie war gazelle .
»Gazelle«, wiederholte Andras. »Das versuche ich mir zu merken.«
»Ja, tun Sie das«, sagte Madame Morgenstern lächelnd. »Beim nächsten Mal frage ich Sie ab.«
Als das Tageslicht langsam schwand, erhob sie sich und führte Andras in den Flur, wo sein Mantel und sein Hut an einem Hochglanzständer hingen. Sie reichte ihm seine Sachen und gab ihm sein Taschentuch zurück. Während sie ihn die Treppe hinunterbegleitete, erklärte sie ihm die Fotografien an der Wand, Bilder von ihren Schülerinnen aus den letzten Jahren: Mädchen in
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