Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Farnbüscheln. Er würde nicht mit leeren Händen bei den Morgensterns auf der Rue de Sévigné eintreffen; nein, er nicht.
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7.
Ein Mittagessen
ERST WENIGE WOCHEN ZUVOR hatte Andras mit Perrets Kurs die Architektur des Marais studiert. Auf einer Exkursion hatten sie sich das Hôtel de Sens angesehen, jenen Stadtpalast aus dem 15. Jahrhundert mit seinen Türmchen und löwenartigen Wasserspeiern, mit den verwirrenden Dachlinien und der überbordenden, überfrachteten Fassade. Andras hatte erwartet, dass Perret eine vernichtende Kritik anbringen würde, eine Abhandlung über die Tugenden der Schlichtheit. Doch dann hatte der Vortrag von der Kraft des Gebäudes gehandelt, von der Kunstfertigkeit und Qualität, die es hatten überdauern lassen. Perret fuhr mit der Hand über die Steinmetzarbeiten am Haupteingang und zeigte den Studenten, mit welcher Sorgfalt die Keilsteine der gotischen Spitzbögen gefertigt waren. Während seiner Ausführungen waren zwei orthodoxe Juden auf der Straße erschienen, die eine Schar von Schuljungen mit Jarmulkes anführten. Die beiden Gruppen hatten sich im Vorbeigehen beäugt. Die kleinen Jungen flüsterten miteinander und bestaunten Perret in seinem Armeemantel; einige blieben etwas zurück, als wollten sie hören, was der Mann als Nächstes sagen würde. Ein Schüler grüßte militärisch, und sein Lehrer tadelte ihn auf Jiddisch.
Nun ging Andras hinter dem Hôtel de Sens entlang, vorbei an dem Garten mit den kunstvoll beschnittenen Sträuchern und den für den Winter mit Gemüsekohl bepflanzten Hochbeeten. Die Blumen schwer im Arm, fädelte er sich seitwärts durch den Verkehr auf der Rue de Rivoli. Die Straßen im Marais vermittelten ein Innenraumgefühl, so als seien sie Teil einer Filmkulisse. In Cinescope und Le Film Complet hatte Andras die Miniaturstädte gesehen, die in höhlenartigen Filmstudios in Los Angeles nachgebaut wurden; der blassblaue Winterhimmel im Marais wirkte wie das gewölbte Dach eines Studios, und Andras rechnete fast damit, Männer und Frauen in mittelalterlichen Kostümen zwischen den Gebäuden herumlaufen zu sehen, gefolgt von Regisseuren mit Flüstertüte und Kameramännern mit Rollwagen voll komplizierter Ausrüstung. In diesem Viertel gab es koschere Schlachter, hebräische Buchhandlungen und Synagogen, alle Gebäude trugen jiddisch beschriftete Schilder, als sei das Marais ein fremdes Land innerhalb der Stadt. Doch Andras entdeckte keine antisemitischen Schmierereien der Art, wie sie regelmäßig im jüdischen Viertel in Budapest auftauchten. Die Mauern waren kahl oder mit Werbung für Suppe, Schokolade oder Zigaretten plakatiert. Als er in den hohen Korridor der Rue de Sévigné trat, brauste ein schwarzes Taxi vorbei und hätte ihn fast umgefahren. Er fing sich, nahm den gewaltigen Blumenstrauß von einem Arm in den anderen und prüfte die Adresse auf der Karte von Madame Gérard.
Auf der Straßenseite gegenüber befand sich ein Haus mit einer Fensterreihe, darüber ein Holzschild in Form einer kindlichen Ballerina mit der Inschrift École de Ballet – Mme Morgenstern, Maîtresse . Andras überquerte die Straße. Halb verhängte Fenster zogen sich über beide Seiten des Eckgebäudes, und als Andras sich auf die Zehenspitzen stellte, sah er einen leeren Raum mit einem hellen Holzboden. Über die gesamte Breite einer Wand hing ein Spiegel; an den anderen Wänden verliefen polierte hölzerne Übungsstangen. In einer Ecke stand ein einfaches Klavier, daneben ein Tisch mit einem altmodischen Grammofon, in dessen glänzend schwarzem Prunkwinden-Trichter sich das Licht fing. Ein diffuser Staubschleier schwebte in der mittäglichen Stille; ein Echo von Bewegung und Musik schien in diesem Staubwirbel gefangen zu sein, als ob in diesem Raum immer Ballett stattfinde, egal ob unterrichtet wurde oder nicht.
Der Eingang war eine grüne Tür mit einem Bleiglasfenster. Andras drückte die Klingel und wartete. Durch die klare Scheibe im Bleiglas konnte er sehen, wie eine kräftige Frau eine Treppe herunterkam. Sie öffnete die Tür, stützte eine Hand in die Hüfte und sah Andras abschätzig an. Sie hatte ein rotes Gesicht, trug ein Kopftuch und war umwölkt von dunklem Paprikageruch wie die Frauen, die auf dem Markt in Debrecen Gemüse und Ziegenmilch verkauften.
»Madame Morgenstern?«, fragte Andras zögernd; diese Frau sah nicht gerade wie eine Ballettlehrerin aus.
»Hah! Nein«, sagte sie auf Ungarisch. »Kommen Sie herein und machen Sie die
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