Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
wie sie daheim erzählt wird?«
»Aber unbedingt!«, sagte Madame Morgenstern und faltete erwartungsvoll die Hände.
Und so erzählte er ihr die Geschichte so, wie er sie immer gehört hatte: Bevor sein Vater das Sägewerk erwarb, hatte er eine lange Pechsträhne gehabt, die ihm den ironischen Spitznamen Glücks-Béla einbrachte. Es begann damit, dass sein Vater krank wurde, als Béla an einer Rabbinerschule in Prag war, und starb, kaum dass Béla zu Hause eintraf. Der geerbte Weinberg war von Schädlingen befallen. Bélas erste Frau starb bei der Entbindung, genau wie das Kind, ein Mädchen; kurz danach brannte das Haus ab. Seine drei Brüder starben im Großen Krieg, und seine Mutter konnte ihren Kummer nicht ertragen und ertränkte sich in der Theiß. Mit dreißig war Béla ein zerstörter Mann, mittellos, alle Verwandten tot. Eine Weile lebte er von der Mildtätigkeit der Juden Konyárs, schlief nachts in der orthodoxen Schul und aß, was man für ihn übrig ließ. Am Ende eines Dürresommers kam ein berühmter ukrainischer Wunderrabbiner von jenseits der Grenze und schlug sein Übergangsquartier in der Schul auf. Er las die Thora mit den Männern aus dem Ort, schlichtete Streitigkeiten, führte Trauungen durch, sprach Scheidungen aus, betete um Regen, tanzte mit seinen Schülern im Hof. Eines Morgens bei Sonnenaufgang traf er auf Andras’ Vater, der an dem heiligen Ort schlief. Der Rabbiner hatte die Geschichte des Pechvogels bereits gehört, dieses Mannes, von dem alle im Dorf sagten, er müsse verflucht sein; die Bewohner begegneten ihm mit einer gewissen Dankbarkeit, als würde er den bösen Blick von ihnen abwenden. Der Rabbiner weckte Béla mit einem Segensspruch, und Béla blickte ihn sprachlos vor Furcht an. Der Rabbiner war ein hagerer Mann mit einem schneeweißen Bart; seine Augenbrauen standen wie gespreizte Flügel von seiner gewölbten Stirn ab, die Augen darunter waren dunkel und feucht.
»Hör mir zu, Béla Lévi«, flüsterte der Rabbiner im Halbdunkel des heiligen Ortes. »Mit dir ist alles in Ordnung. Gott prüft die am stärksten, die er am meisten liebt. Du musst zwei Tage fasten und dann ein rituelles Bad nehmen, dann gehe auf das erste Arbeitsangebot ein, das man dir macht.«
Selbst wenn Glücks-Béla an Wunder geglaubt hätte – sein Pech hatte ihn skeptisch gemacht. »Ich bin zu hungrig, um zu fasten«, sagte er.
»Übung im Hungern erleichtert das Fasten«, sagte der Rabbiner.
»Woher wollen Sie wissen, dass ich nicht verflucht bin?«
»Ich versuche, mich nicht zu fragen, woher ich etwas weiß. Manche Dinge weiß ich einfach.« Und dann segnete der Rabbiner Béla erneut und ließ ihn allein in der Schul zurück.
Was hatte Glücks-Béla noch zu verlieren? Er fastete zwei Tage und wusch sich anschließend nachts im Fluss. Am nächsten Morgen marschierte er zu den Bahnschienen, schwach vor Hunger, und pflückte einen Apfel von einem verkümmerten Baum neben einem weißen Backsteinhaus. Der Besitzer des Sägewerks, ein orthodoxer Jude, kam aus dem Haus und fragte Béla, was er da tue.
»Ich hatte mal einen Weinberg«, sagte Béla. »Wenn ich den Weinberg noch hätte, dürften Sie meine Trauben pflücken. Als ich noch ein Haus hatte, hätte ich Sie darin willkommen geheißen. Meine Frau hätte Ihnen etwas zu essen gegeben. Jetzt habe ich weder Weinberg noch Haus. Ich habe keine Frau mehr. Ich habe kein Essen. Aber ich kann arbeiten.«
»Ich habe keine Arbeit für Sie«, sagte der Mann freundlich, »aber kommen Sie doch herein und essen Sie etwas mit uns.«
Der Mann hieß Zindel Kohn. Seine Frau Gitta stellte Brot und Käse vor ihren Gast. Béla aß mit Zindel und Gitta und ihren fünf kleinen Kindern; dabei erlaubte er sich zum ersten Mal die Vorstellung, dass der Rest seines Lebens nicht vom Elend der Vergangenheit geprägt sein würde. Er hätte sich nicht träumen lassen, dass dieses Haus sein eigenes werden, dass seine eigenen Kinder an diesem Tisch Brot und Käse essen würden. Doch am Ende des Nachmittags hatte er Arbeit: Ein junger Mann, der die Sägemaschine in Zindel Kohns Sägewerk bediente, hatte sich entschlossen, ein Schüler des ukrainischen Rabbiners zu werden. Am Morgen war er ohne ein Wort verschwunden.
Als Zindel Kohn mit seiner Familie sechs Jahre später nach Debrecen zog, übernahm Glücks-Béla die Leitung des Sägewerks. Er heiratete ein schwarzhaariges Mädchen namens Flóra, die ihm drei Söhne gebar, und als der älteste zehn Jahre alt war, hatte Béla
Weitere Kostenlose Bücher