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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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ätherischen Tüllwolken oder sylphidengleichen Seidenstoffen, junge Tänzerinnen im vergänglichen Zauber von Kostümen, Schminke und Bühnenbeleuchtung. Ihre Mienen waren ernst, die Arme blass und nackt wie Zweige von Winterbäumen. Andras wollte stehen bleiben und genauer hinsehen. Er fragte sich, ob eines der Bilder Madame Morgenstern als Kind zeigte.
    »Vielen Dank für alles«, sagte er, als sie den Treppenabsatz erreicht hatten.
    »Bitte.« Sie legte ihre schlanke Hand auf seinen Arm. »Ich muss Ihnen danken. Es war sehr freundlich von Ihnen zu bleiben.«
    Bei der Berührung ihrer Hand errötete Andras so tief, dass er das Blut in seinen Schläfen pochen hörte. Madame Morgenstern öffnete die Tür, und er trat hinaus in die Kühle des Nachmittags. Er merkte, dass er sie bei der Verabschiedung nicht ansehen konnte. Beim nächsten Mal frage ich Sie ab . Doch sie hatte ihm sein Taschentuch zurückgegeben, als würden sich ihre Wege voraussichtlich nicht wieder kreuzen. Er richtete seine Abschiedsworte an die Türstufe, an ihre Füße in den rehbraunen Schuhen. Dann wandte er sich ab, und sie schloss die Tür hinter ihm. Ohne nachzudenken, ging er den Weg zurück zum Fluss, bis er den Pont Marie erreicht hatte. Dort blieb er am Brückenrand stehen und holte das Taschentuch hervor. Es war noch feucht an der Stelle, wo sie es zum Trocknen ihrer Augen benutzt hatte. Wie im Traum nahm er eine Ecke des Tuchs in den Mund und schmeckte das Salz, das sie dort hinterlassen hatte.

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    8.
Gare d’Orsay
    DIE GANZE NACHT FAND ER keinen Schlaf. Immer wieder ging er in Gedanken den Nachmittag bei den Morgensterns bis ins kleinste Detail durch. Dieser peinliche Blumenstrauß, der doppelt peinlich ausgesehen hatte, als sie ihn in der blauen Glasvase in den Salon trug! Der Augenblick, als ihm klar wurde, dass sie die Tochter der älteren Dame aus Budapest sein musste, und wie nervös ihn diese Erkenntnis gemacht hatte. Wie er in falschem Französisch gesagt hatte: Ich bin die Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen und Danke für die Einladung von mir . Wie gerade sie den Rücken gehalten hatte, als würde sie unentwegt tanzen, bis zu dem Moment am Tisch, als Elisabet gegangen war – wie sich ihr Rücken dann gekrümmt hatte und die aufgereihten Perlen ihrer Wirbelsäule zum Vorschein gekommen waren, wie er Madame Morgenstern hatte berühren wollen. Wie sie ihm zugehört hatte, als er die Geschichte seines Vaters erzählte. Die nahe Hitze ihrer Schulter, als sie neben ihm auf dem Sofa im Salon saß und im Album mit den Ansichtskarten blätterte. Die Verabschiedung an der Tür, ihre Hand auf seinem Arm. Andras versuchte, in Gedanken ein Bild von ihr heraufzubeschwören – die dunkle Haarschwinge über ihrer Stirn, ihre grauen Augen, die zu groß für das Gesicht zu sein schienen, die klare Linie ihres Kiefers, wie sie die Lippen aufeinanderpresste, wenn sie darüber nachdachte, was er gesagt hatte –, doch wollte es ihm nicht gelingen, aus den verschiedenen Elementen ein Bild von ihr zusammenzufügen. Er sah sie wieder vor sich, wie sie ihm über die Schulter zulächelte, mädchenhaft und weise zugleich. Doch was dachte er da, was bildete er sich eigentlich ein? Wie absurd von ihm, auf diese Weise an eine Frau wie Claire Morgenstern zu denken – er, Andras, ein zweiundzwanzigjähriger Student, der in einer ärmlichen Dachkammer wohnte und Tee aus einem Marmeladenglas trank, weil er sich weder Kaffee noch eine Kaffeetasse leisten konnte. Und dennoch hatte sie ihn nicht fortgeschickt, sondern mit ihm gesprochen, er hatte sie zum Lachen gebracht, sie hatte sein Taschentuch angenommen, seinen Arm auf vertrauliche, intime Weise berührt.
    Stundenlang wälzte er sich im Bett herum und versuchte, die Gedanken an sie aus seinem Kopf zu vertreiben. Als der Himmel vor seinem Fenster von einem dunklen graublauen Licht erfüllt wurde, hätte er am liebsten geweint. Die ganze Nacht hatte er wach gelegen, und bald würde er aufstehen, zur Hochschule und dann zur Arbeit gehen müssen, wo Madame Gérard von seinem Besuch würde hören wollen. Es war Montagmorgen, der Anfang einer neuen Woche. Die Nacht war vorüber. Er konnte nur eines tun: aufstehen und den Brief schreiben, den er schreiben musste, den er einwerfen musste, bevor er zur Schule ging. Er nahm ein altes Blatt Zeichenpapier und begann mit einem Entwurf.
Liebe Mme Morgenstern,
vielen Dank für
    Wofür denn? Für den angenehmen Nachmittag? Wie abgedroschen das klänge.

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