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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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es den Kommilitonen aus dem ersten Jahr nicht besser erging. Andras konnte nicht glauben, wie zuversichtlich er noch eine halbe Stunde zuvor gewesen war, wie überzeugt, dass alle im Raum seine Arbeit zum Beweis erklärten, welch hervorragender Architekt er werden würde.
    Er wusste, dass es an der Schule Tradition war, zu Semesterende anspruchsvolle Kritik auszuteilen, und dass nur wenige Anfänger mit unverletztem Stolz daraus hervorgingen. Es war das Initiationsritual dieser Schule, ein Abhärten, das die Studenten auf die tiefer gehenden und subtileren Demütigungen vorbereitete, die sie würden verkraften müssen, wenn das diskutierte Projekt aus ihrer eigenen Feder stammte. Dennoch war die Beurteilung viel härter gewesen, als er erwartet hatte – und was noch schlimmer war: Die Kommentare waren gerechtfertigt. Er hatte so hart gearbeitet, wie er konnte, und doch war es nicht genug gewesen, nicht einmal annähernd. Und auf eine Weise, die er nicht näher beschreiben konnte, war diese Demütigung an sein Bild von Madame Morgenstern und seine Beziehung zu ihr geknüpft – als ob er durch die Konstruktion einer hervorragenden Kopie des Gare d’Orsay einen größeren Anspruch auf ihre Gefühle gehabt hätte. Jetzt würde er ihr die Ereignisse des Tages nicht ehrlich schildern können, ohne sich selbst als hochmütigen Narren zu offenbaren. Er verließ die École Spéciale in übelster Laune – eine Laune, die beharrlich genug war, um ihn die ganze Nacht hindurch zu begleiten, und die sich noch immer nicht verflüchtigt hatte, als er sich mit Rosen zur Einschleusung in die Versammlung von Le Grand Occident traf.
    Der Versammlungssaal befand sich direkt um die Ecke der palastartigen Beaux-Arts, wenige Querstraßen östlich des verfluchten Gare d’Orsay. Andras wollte dieses Bauwerk nie wieder sehen. Er wusste, dass die Kritik zutreffend gewesen war; in seinem Eifer, jedes Detail des Gebäudes zu kopieren, hatte er das große Ganze aus den Augen verloren, hatte übersehen, was die Konstruktion einzigartig und lebendig machte. Das sei ein klassischer Anfängerfehler, hatte Vago ihm auf dem Weg nach draußen gesagt. Aber wenn das so war, warum hatte Vago ihn dann nicht vorher gewarnt? Auch Rosen bekundete nun seinen maßlosen Hass auf das Original seines Modells, die École Militaire. In kameradschaftlicher Eintracht gingen sie finsterer Miene über das Trottoir die Rue de l’Université hinunter.
    Da es sich bei der Versammlung lediglich um eine Rekrutierungsveranstaltung handelte, war keine Tarnung notwendig; sie trafen zusammen mit den übrigen Besuchern ein, von denen die meisten offensichtlich Studenten waren. An einem Pult auf einer niedrigen Bühne stellte sich ein gertenschlanker Bursche in einem schlecht sitzenden grauen Anzug als Monsieur Dupuis vor, »Sekretär von Präsident Pemjean persönlich«, und klatschte Ruhe gebietend in die Hände. Das Publikum verstummte. Freiwillige liefen durch die Gänge, teilten die Sonderbeilage einer Zeitung mit dem Titel Le Grand Occident aus. Der Sekretär von Präsident Pemjean persönlich verkündete, dass diese Beilage die Charta der Organisation enthalte, die nun von den leitenden Mitgliedern laut verlesen würde. Sechs ernst dreinblickende junge Männer versammelten sich auf der Bühne und trugen nacheinander die Forderungen ihrer Vereinigung vor: Sämtliche Juden in Frankreich müssten aus einflussreichen Positionen entfernt werden, sie dürften keine Macht mehr über Franzosen ausüben, jüdische Organisationen in Frankreich müssten aufgelöst werden, weil sie nach nichts Geringerem als der Weltherrschaft strebten, während sie sich schamlos als jüdische Wohlfahrtsstellen ausgaben; das Recht auf französische Staatsbürgerschaft müsse allen Juden aberkannt werden – sie seien von nun an als Ausländer zu betrachten, auch jene, deren Familien seit Generationen in Frankreich ansässig waren; das gesamte jüdische Eigentum sei baldmöglichst zu beschlagnahmen.
    Nach jeder Forderung ertönte ein kurzer, knatternder Applaus. Einige Teilnehmer pflichteten lautstark bei, andere hoben die Fäuste. Manche schienen anderer Meinung zu sein, einige begannen mit den Befürwortern zu diskutieren.
    »Was ist mit den Juden, deren Brüder oder Väter im Großen Krieg für Frankreich gestorben sind?«, rief jemand aus dem zweiten Rang.
    »Diese Zionisten starben zu ihrem eigenen Ruhm, nicht zum Ruhme Frankreichs«, rief der Sekretär des Präsidenten zurück. »Man kann

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