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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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keinem Israeliten trauen, der Frankreich dient. Wir müssen ihnen verbieten, Waffen zu tragen.«
    »Warum sollen nicht sie im Gefecht sterben, wenn schon Menschen sterben müssen?«, rief ein anderer Mann.
    Rosen krampfte die Hände um die Rückenlehne des Stuhls vor sich, seine Fingerknöchel wurden weiß. Andras wusste nicht, was er tun würde, wenn Rosen nun die Stimme erhob.
    »Ihr seid hier, weil ihr an die Notwendigkeit eines reinen Frankreichs glaubt, eines Frankreichs, das von unseren Vätern und Vorvätern geschaffen wurde«, fuhr der Sekretär des Präsidenten fort. »Ihr seid hier, um eure Kraft in den Dienst der Reinigung Frankreichs zu stellen. Wenn ihr nicht zu diesem Zweck hier seid, dann bitte ich euch zu gehen. Wir brauchen nur die Patriotischsten, Aufrichtigsten unter euch.« Der Sekretär wartete. Im Publikum entstand ein leises Rumoren. Einer der sechs jungen Männer, die die Charta verlesen hatten, rief aus: »Vive la France!«
    »Ihr werdet Teil einer internationalen Allianz werden …«, begann der Sekretär, doch seine Worte gingen in einem plötzlichen Stakkatoklappern unter, einem hölzernen Geklacker, das seine Worte unverständlich machte. Dann verstummte der Lärm so abrupt, wie er begonnen hatte. Der Sekretär räusperte sich, glättete seine Revers und setzte erneut an: »Ihr werdet Teil …«
    Der Krach ertönte noch lauter als beim ersten Mal. Er erscholl aus jeder Ecke des Saals. Manche Besucher waren aufgestanden und drehten hölzerne Klappern an Stäben. Wie zuvor hielten sie nach kurzem lauten Geratter wieder inne.
    »Ich begrüße diese Begeisterung, meine Herren«, fuhr der Sekretär fort, »aber warten Sie doch bitte, bis …«
    Wieder brach der Lärm aus, und dieses Mal verstummte er nicht. Die Männer mit den Klappern – es waren vielleicht zwanzig oder dreißig – drängten in die Gänge und ließen ihre Instrumente kreisen, so schnell und laut sie konnten. Es waren Purim-Ratschen, wie Andras jetzt sah – die hölzernen Klappern, die man in der Synagoge beim Verlesen der Geschichte Esthers drehte, wann immer der Name des Schurken Haman im Text auftauchte. Andras warf Rosen einen Blick zu, der ebenfalls verstanden hatte. Der Sekretär schlug auf das Pult. Die sechs grimmigen Kerle auf der Bühne standen still, als erwarteten sie einen Befehl vom Sekretär. Weitere Demonstranten schoben sich aus den Reihen in die Gänge, sie entrollten große Banner, hielten sie hoch, damit alle sie sehen konnten. Ligue Internationale Contre l’Antisémitisme stand auf einem. Schluss mit den französischen Hitlerianern auf einem anderen. Liberté, Égalité, Fraternité auf einem dritten. Die Männer mit den Bannern jubelten los, und das Publikum antwortete mit einem zornigen Brüllen. Der dünne Sekretär des Präsidenten lief geradezu violett an. Rosen stieß einen Freudenschrei aus und zog Andras in den Gang, um eines der Banner in die Höhe zu hieven. Ein Mitglied der Ligue, ein großer, breitschultriger Mann mit Halstuch in den Farben der Tricolore, holte eine Flüstertüte hervor und rief hinein: »Freie Männer Frankreichs! Lasst euch nicht von diesen Fanatikern vergiften!«
    Der Sekretär knurrte seinen sechs Kumpanen einen Befehl zu, und einen Moment später herrschte im Versammlungssaal das reine Chaos. Die Stühle leerten sich. Einige Zuschauer zerrten die Banner herunter, andere jagten die Männer mit den Ratschen. Die sechs von der Bühne stürzten sich auf den Wortführer der Ligue, doch er wurde sofort von Gleichgesinnten umringt und verteidigt, ohne dass er aufhörte, Fraternité! Égalité! zu fordern. Der Sekretär verschwand hinter einem Bühnenvorhang. Andras wurde von hinten geschubst, in die Kniekehlen getreten, mit Ellenbogen in die Brust gestoßen. Doch er ließ das Banner nicht los. Er reckte den Stab in die Höhe und rief: »Schluss mit den französischen Hitlerianern!« Rosen war nicht mehr an seiner Seite; Andras konnte ihn in der Menge nirgends ausmachen. Ein Mann versuchte das Banner niederzureißen, Andras rang mit ihm; ein anderer packte ihn am Kragen, er bekam einen Schlag aufs Kinn. Taumelnd sackte er gegen eine Säule, spuckte Blut auf den Boden. Um ihn herum schrien und kämpften Männer. Andras kroch auf den Ausgang zu, befühlte seine Zähne mit der Zunge und fragte sich, ob er einen Zahnarzt aufsuchen musste. Im Vorraum entdeckte er Rosen, der mit einem mächtigen kahlen Mann in Arbeitskluft rang. Als wollte er ihn selbst verprügeln, packte Andras

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