Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
zurück. »Und damit wäre Ihr Studium zu Ende. Egal was Sie tun, Sie dürfen Ihre Aufenthaltsgenehmigung nicht aufs Spiel setzen. Ihre Anwesenheit in Frankreich ist schon für sich genommen eine politische Aussage.«
»Er wird sich hier eh nicht halten können«, sagte Elisabet. Der kurze Moment der Besorgnis war vorüber. »Der wird nach dem ersten Jahr die École verlassen müssen. Seine Professoren halten ihn für unbegabt. Hast du nicht zugehört?« Sie erhob sich von ihrem Samtstuhl und stapfte auf ihr Zimmer, wo man hören konnte, wie sie sich zum Ausgehen fertig machte. Kurz darauf tauchte sie in einem olivgrünen Kleid und einer schwarzen Wollmütze auf. Sie hatte sich das Haar geflochten und die Wangen gerieben, sodass sie stürmisch rot leuchteten. Die Tasche in der einen Hand, Handschuhe in der anderen, stand sie in der Tür zum Wohnzimmer und deutete ein Winken an.
»Warte nicht auf mich«, sagte sie zu ihrer Mutter. Als habe sie noch einen nachträglichen Einfall, schoss sie einen verächtlichen Blick in Andras’ Richtung. »Und Sie brauchen nächstes Wochenende übrigens nicht zu kommen, Sie Kämpfer für Frankreich. Ich bin mit Marthe zum Skifahren in Chamonix. Mir wäre es sogar lieber, wenn Sie gänzlich davon Abstand nähmen.« Elisabet warf sich die Tasche über die Schulter und lief die Treppe hinunter, dann hörte man die Tür scheppernd hinter ihr ins Schloss fallen.
Madame Morgenstern legte die Hand auf die Stirn. »Wie lange wird sie noch so sein, was meinen Sie? Sie haben sich mit sechzehn nicht so aufgeführt, oder?«
»Noch schlimmer«, sagte Andras lächelnd. »Aber ich wohnte nicht mehr zu Hause, deshalb wurde meiner Mutter das erspart.«
»Ich habe ihr schon gedroht, sie auf ein Internat zu schicken, aber sie weiß, dass ich nicht den Mut dazu hätte. Und schon gar nicht das Geld.«
»Nun«, sagte er. »Chamonix. Wie lange wird sie dort sein?«
»Zehn Tage«, sagte Madame Morgenstern. »So lange war sie noch nie von zu Hause fort.«
»Dann wird es wohl Januar werden, bis ich Sie wiedersehe«, sagte Andras. Er hörte es sich selbst laut sagen – maga , die vertraulichere ungarische Sie-Form –, aber da war es schon zu spät, und überhaupt schien Madame Morgenstern den Lapsus nicht bemerkt zu haben. Mit der Entschuldigung, es sei jetzt Zeit für ihn, zur Arbeit zu gehen, stand er auf, um seinen Mantel und Hut von der Garderobe oben an der Treppe zu nehmen. Doch sie hielt ihn mit einer Hand auf dem Ärmel zurück.
»Sie haben das Spectacle d’Hiver vergessen«, sagte sie. »Sie kommen doch hin, oder?«
Die Winteraufführung ihrer Ballettschule. Andras wusste natürlich, dass sie in der folgenden Woche stattfand, und zwar am Donnerstagabend im Sarah-Bernhardt. Er war derjenige gewesen, der die Plakate entworfen hatte. Doch hatte er nicht damit gerechnet, einen Vorwand zum Zuschauen zu haben; an diesem Abend war er nicht zur Arbeit eingeteilt, da die Spielzeit für Die Mutter dann bereits gelaufen sein würde, die Winterpause begonnen hatte. Madame Morgenstern schaute ihn in stiller Erwartung an, ihre Hand brannte auf dem Stoff seines Mantels. Andras’ Mund war eine Wüste, seine Hände eisig vor Schweiß. Er redete sich ein, die Einladung habe nichts zu bedeuten, sie bewege sich völlig innerhalb der Grenzen ihrer Beziehung: als Freund der Familie, als möglicher Freier von Elisabet mochte er durchaus eingeladen werden. Er brachte eine bejahende Antwort heraus, sagte, er fühle sich geehrt, dann führten sie ihr wöchentliches Abschiedsritual durch: die Garderobe, seine Sachen, die Treppe, ein keuscher Abschied. Doch auf der Schwelle hielt sie seinen Blick etwas länger als sonst. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, ihr Mund verharrte in einer nachdenklichen Pose. Gerade als sie etwas sagen wollte, jagten zwei rotjackige Schulmädchen einen kleinen weißen Hund über den Bürgersteig. Klara und Andras mussten sich voneinander lösen, und der Moment war vorbei. Sie hob die Hand zum Abschied, trat ins Haus und schloss die Tür hinter sich.
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11.
Winterferien
IN JENEM JAHR HATTE CLAIRE MORGENSTERN in ihrem Studio auf der Rue de Sévigné fünfundneunzig Mädchen zwischen acht und vierzehn Jahren unterrichtet, von denen drei der ältesten bald zur professionellen Ausbildung am Ballet Russe de Monte Carlo aufbrechen würden. Seit zwei Monaten bereitete sie die Kinder nun schon auf das Spectacle d’Hiver vor; die Kostüme waren fertig, die jungen Tänzerinnen
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