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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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werde, wenn ich mit dem Studium fertig bin?«, fragte Rosen.
    »Nein«, sagte Andras. »Was denn?«
    »Nach Palästina gehen. Einen Tempel aus Jerusalemer Stein errichten.« Er hielt inne und schaute Andras herausfordernd an, doch Andras lachte nicht. Er dachte an die Fotografien von Jerusalem, die in Vergangenheit und Zukunft erschienen waren. Die Gebäude waren von einer geologischen Beständigkeit, als wären sie nicht von menschlicher Hand erbaut. Selbst auf den Schwarz-Weiß-Aufnahmen schienen die Steine goldenes Licht zu verströmen.
    »Ich möchte eine Stadt in der Wüste bauen«, sagte Rosen. »Eine neue Stadt, wo früher eine andere war. In Form der alten, aber mit ganz neuen Gebäuden. Perrets Stahlbeton ist perfekt für Palästina. Billig und leicht, kühl in der Hitze, zu jeder Form zu gießen.« Während er sprach, schien er sie in der Ferne zu sehen, diese Stadt in den wogenden Hügeln.
    »Du bist also ein Träumer«, sagte Andras. »Wer hätte das gedacht.«
    Rosen grinste und sagte: »Verrat es bloß nicht den anderen.« Wieder schauten sie hoch zu den Turmspitzen, wo der goldene Streifen zu einem schmalen Faden wurde. »Aber du machst mit, oder?«, sagte er. »Kommst mit zu einem Treffen der Jeunesse. Dann sehen wir ja, was sie vorhaben.«
    Andras zögerte. Er versuchte sich vorzustellen, was Madame Morgenstern von so einer Aktion halten würde. Er malte sich aus, ihr an einem der gemeinsamen Sonntagnachmittage davon zu erzählen: von seinem Wagemut, seiner Kühnheit. Seiner Dummheit? »Und was ist, wenn uns jemand erkennt?«, fragte er.
    »Das wird keiner«, sagte Rosen. »Niemand wird mit uns rechnen.«
    »Wann treffen sie sich?«
    »Du bist mein Mann, Lévi«, sagte Rosen und grinste.
    Sie beschlossen, zunächst eine Rekrutierungsveranstaltung von Le Grand Occident zu besuchen, weil sie der Meinung waren, dass es dort fast nur unbekannte Gesichter geben würde. Sie sollte am Samstag in einem Versammlungssaal auf der Rue de l’Université in Saint-Germain-des-Prés stattfinden. Doch zuvor galt es, das Semesterende mit seinen Projektbewertungen zu überstehen. Andras’ Gare d’Orsay war endlich fertig geworden, zwei Nächte hatte er dafür in Folge durchgearbeitet; am Freitagmorgen stand das Modell weiß und makellos auf dem Fundament aus Karton. Er wusste, dass es gut war, das Ergebnis langer Arbeit, vieler Stunden penibelster Messungen und Konstruktion. Rosen, Ben Yakov und Polaner hatten ebenfalls viel Zeit investiert; ihre geisterhaft weißen Versionen der École Militaire, der Rotonde de la Villette und des Théâtre de l’Odeon standen nebeneinander auf den Ateliertischen. Nacheinander sollten sie von ihren Kommilitonen, von den Studenten aus dem zweiten, dritten und vierten Jahr, von Médard, ihrem Ateliermentor aus dem fünften Jahr, und schließlich von Vago selbst beurteilt werden. Andras glaubte durch die unnachgiebige, aber freundliche Kritik des Redakteurs von Vergangenheit und Zukunft gut darauf vorbereitet zu sein; zu Herbstbeginn war er schon einmal beurteilt worden, doch es war nie so schlimm gewesen wie das, was sein Redakteur regelmäßig auszusetzen gehabt hatte.
    Als die Bewertung seines Modells begann, wurde der Ton auf der Stelle harsch. Die Linienführung sei ungenau, die Konstruktionsmethoden laienhaft; er habe keinerlei Versuch unternommen, die breite Glasfront des Gebäudes wiederzugeben oder das einzufangen, was an ihrer Wirkung am auffälligsten sei – nämlich wie die Seine, die am Bahnhof vorbeifloss, Licht auf die hohe reflektierende Fassade warf. Er habe ein totes Modell gebaut, sagte ein Student aus dem vierten Jahr. Einen Schuhkarton. Einen Sarg. Selbst Vago, der besser als alle anderen wusste, wie hart Andras gearbeitet hatte, kritisierte die Leblosigkeit des Modells. In seinem farbfleckigen Arbeitshemd und einer unpassend schicken Weste beugte er sich über das Modell und betrachtete es mit unverhohlener Enttäuschung. Er zog einen Drehbleistift aus der Tasche und klopfte mit dessen Metallspitze gegen seine Lippe.
    »Eine pflichtgetreue Nachbildung«, sagte er. »Wie eine Polonaise von Chopin bei einem Schulkonzert. Sie haben alle Noten getroffen, aber ohne jeden Kunstsinn.«
    Und das war alles. Vago wandte sich ab und zog weiter zum nächsten Modell, und Andras fiel in einen Abgrund aus Demütigung und Elend. Vago hatte recht: Er hatte das Bauwerk ohne jede Inspiration dupliziert; wie hatte er es je anders sehen können? Es war nur ein kleiner Trost, dass

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