Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Er wusste, dass sie Pfeffer auf den Eiern mochte, dass sie keine Milch vertrug, dass sie am liebsten die Kruste vom Brot aß. Er wusste, dass sie in Brüssel und Florenz gewesen war (aber nicht, mit wem); er wusste, dass die Knochen in ihrem rechten Fuß bei feuchtem Wetter schmerzten. Sie war launisch, doch sie hellte die düsteren Launen auf, indem sie auf ihre eigenen Kosten scherzte, alberne amerikanische Platten auflegte oder Andras komische Fotografien ihrer jüngsten Schülerinnen in Aufführungskostümen zeigte. Er wusste, dass Apollo ihr Lieblingsballett war und sie La Sylphide am wenigsten mochte, weil es zu viel getanzt und nur selten originell aufgeführt wurde. Er hielt sich für einen kümmerlichen Ignoranten im Bereich des Tanzes, doch Madame Morgenstern schien das nicht zu stören; sie spielte ihm Ballette auf dem Grammofon vor und beschrieb, was auf der Bühne passierte, wenn die Musik anschwoll und abebbte, und manchmal rollte sie den Wohnzimmerteppich auf und tanzte die Choreografie en miniature für ihn nach, die Haut vor Freude gerötet. Im Gegenzug unternahm er mit ihr Spaziergänge durch das Marais, schilderte ihr die Architekturgeschichte der Gebäude, inmitten derer sie lebte: das Hôtel Carnavalet aus dem 16. Jahrhundert mit seinen Flachreliefs der vier Jahreszeiten, das Hôtel Amelot de Bisseuil, dessen gewaltiges medusengeschmücktes Portal sich einst regelmäßig für Beaumarchais geöffnet hatte, die Synagoge Guimard auf der Rue Pavée mit ihrer wellenförmigen Fassade gleich einer geöffneten Thorarolle. Klara fragte sich laut, wieso sie all diese Dinge nie zuvor bemerkt hatte. Er habe für sie einen Schleier gelüftet, ihr eine Dimension ihres Viertels gezeigt, die sie sonst nie entdeckt hätte.
Trotz der nachdrücklichen Wiederholung ihrer feststehenden Einladung lebte Andras in der ständigen Angst, dass er eines Tages bei Madame Morgenstern eintreffen und einen anderen Herrn am Tisch vorfinden würde, einen schnurrbärtigen Hauptmann, einen tweedgewandeten Arzt oder einen begnadeten russischen Choreografen – irgendeinen kultivierten Vierzigjährigen mit einer gesellschaftlichen Gewandtheit, die für Andras unerreichbar wäre, einen Herrn mit großer Souveränität auf den Gebieten, wo sich ein feiner Herr auszukennen hatte: Wein, Musik und die Kunst, eine Frau zum Lachen zu bringen. Doch der furchteinflößende Rivale tauchte niemals auf; zumindest nicht am Sonntagnachmittag; dieser Teil der Morgenstern’schen Woche schien Andras allein vorbehalten zu sein.
Jenseits der Rue de Sévigné ging das Leben seinen gewohnten Gang – zumindest so weit, wie Andras’ Alltag als Architekturstudent in Paris inzwischen Gewohnheit war. Sein Modell näherte sich der Fertigstellung, die Mauern waren bereits aus steifem weißen Karton geschnitten und warteten auf das Zusammensetzen. Obwohl es mittlerweile so groß wie eine Hutschachtel war, hatte er sich angewöhnt, das Modell jeden Tag zur Schule zu bringen und wieder mit nach Hause zu nehmen. Grund dafür war eine Welle von Vandalismus, die sich nur gegen die jüdischen Studenten der École Spéciale zu richten schien. Einem Studenten aus dem dritten Jahr namens Jean Isenberg war eine Reihe aufwendiger Blaupausen mit Tinte übergossen worden; Anne-Laure Rosen aus dem vierten Jahr waren eine Woche vor der Prüfung ihre teuren Lehrbücher für Statik gestohlen worden. Bisher waren Andras und seine Freunde ungeschoren davongekommen, doch Rosen war der Ansicht, es sei nur eine Frage der Zeit, bis einer von ihnen zur Zielscheibe würde. Die Professoren beriefen eine Versammlung ein und sprachen voller Ernst zu den Studenten, drohten mit schlimmen Konsequenzen für die Täter und beschworen jeden vorzutreten, der Beweise besitze – aber niemand bot freiwillig Informationen an. Im La Colombe Bleue legte Rosen seine eigene Theorie dar. Verschiedene Kommilitonen gehörten bekanntermaßen der Front de la Jeunesse und einer Gruppe namens Le Grand Occident an, deren erklärter Nationalismus nur ein durchsichtiger Vorwand für Antisemitismus sei.
»Diese Ratte Lemarque ist eine Marionette der Jeunesse«, sagte Rosen bei Mandelplätzchen und dünnem Kaffee. »Ich wette, er steckt dahinter.«
»Lemarque kann es nicht sein«, sagte Polaner.
»Warum nicht?«
Polaner errötete leicht und faltete seine schmalen weißen Hände im Schoß. »Er hat mir bei einem Projekt geholfen.«
»Ach, hat er das?«, sagte Rosen. »Dann würde ich sagen, sieh dich
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