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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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seinen Freund und riss ihn so heftig weg, dass Rosen mit der Schulter gegen die Wand prallte. Der Kerl im Overall war offenbar dankbar, dass ihm jemand die Arbeit abnahm, und stürzte sich wieder in die Prügelei im Zuschauerraum. Andras und Rosen stolperten aus dem Gebäude, vorbei an Polizisten, die die Treppe hinaufstürmten, um den Krawall zu beenden. Als sie den Tumult hinter sich gelassen hatten, rannten sie die Rue de Solférino hinunter bis zum Quai d’Orsay, wo sie sich auf eine Bank warfen und keuchend liegen blieben.
    »Wir waren also nicht die Einzigen!«, sagte Rosen und betastete seine Rippen mit den Fingerspitzen. Andras befühlte seine Lippen von innen mit der Zunge. Seine Wange blutete an der Stelle, wo er hineingebissen hatte, doch seine Zähne waren unversehrt. Als er schnelle Schritte hörte, schaute er auf und sah drei Mitglieder der Ligue mit flatterndem Banner die Straße entlanglaufen, verfolgt von anderen Männern. Denen wiederum liefen Polizisten hinterher.
    »Wie gerne ich noch mal das Gesicht des Sekretärs sehen würde«, sagte Rosen.
    »Du meinst den Sekretär des Präsidenten persönlich ?«
    Rosen legte die Hände auf die Knie und prustete los. Doch dann sauste ein Sanitätswagen die Straße entlang zum Versammlungssaal, einige Minuten später folgte ein zweiter. Kurz darauf rannte eine weitere Gruppe Ligue-Mitglieder vorbei. Die Männer wirkten blass und niedergeschlagen, ließen ihre Banner über das Pflaster schleifen und hielten die Mützen und Hüte in den Händen. Schweigend schauten Andras und Rosen ihnen nach. Etwas Schlimmes war passiert: Ein Mitglied der Ligue musste ernsthaft verletzt worden sein. Andras zog ebenfalls den Hut ab und legte ihn in den Schoß, das Adrenalin in seinen Adern ebbte langsam ab. Le Grand Occident war nicht die einzige Vereinigung dieser Art; in ebendieser Minute fanden vermutlich überall in Paris ähnliche Treffen statt. Und wenn solche Versammlungen in Paris stattfanden, was geschah dann in den weniger liberalen Städten Europas? Andras zog seine Jacke enger um sich, langsam spürte er die Kälte wieder. Rosen stand auf; auch er war leise und ernst geworden.
    »Noch viel schlimmere Dinge werden hier geschehen«, sagte er. »Wart’s ab.«
    Am nächsten Tag in der Rue de Sévigné hörten Madame Morgenstern und Elisabet schweigend zu, während Andras die Ereignisse der letzten achtundvierzig Stunden schilderte. Er erzählte ihnen von der Beurteilung seines Modells und wie tief seine Arbeit in seiner eigenen Einschätzung gesunken war; er erzählte ihnen, was bei der Versammlung geschehen war. Er holte einen Ausschnitt aus der L’Œuvre vom Morgen heraus und las ihn laut vor. Im Artikel wurden die aufgelöste Rekrutierungsveranstaltung und der darauffolgende Tumult geschildert. Jede Gruppe gab der anderen die Schuld am Gewaltausbruch: Pemjean ergriff die Gelegenheit, auf die Verschlagenheit und Streitlust des jüdischen Volks hinzuweisen, während Gérard Lecache, Präsident der Ligue Internationale Contre l’Antisémitisme, den Zwischenfall zu einem Beweis der Gewaltbereitschaft von Le Grand Occident erklärte. Der Verfasser des Artikels ergriff klar Partei für die Ligue, lobte ihren makkabäischen Mut und bezichtigte Le Grand Occident des Fanatismus, der Ignoranz und der Barbarei; wie sich herausstellte, hatten zwei Mitglieder der Ligue schwere Kopfverletzungen erlitten und wurden nun im Krankenhaus Hôtel-Dieu behandelt.
    »Sie hätten sterben können!«, sagte Elisabet. Ihr Ton war bissig wie immer, doch kurz warf sie Andras einen Blick zu, aus dem so etwas wie aufrichtige Sorge sprach. »Was haben Sie sich dabei gedacht? Haben Sie geglaubt, Sie könnten es mit all diesen brutalen Kerlen gleichzeitig aufnehmen? Dreißig von Ihnen gegen zweihundert von den anderen?«
    »Wir wussten gar nichts von dem Plan«, sagte Andras. »Wir wussten nicht, dass die LICA da sein würde. Als die Leute mit dem Lärm anfingen, haben wir einfach mitgemacht.«
    »Leichtsinnige Narren, alle miteinander«, schimpfte Elisabet.
    Madame Morgenstern richtete ihre grauen Augen auf Andras. »Passen Sie auf, dass Sie keinen Ärger mit der Polizei bekommen«, sagte sie. »Vergessen Sie nicht, dass Sie nur Gast in Frankreich sind. Sie möchten doch nicht wegen eines solchen Zwischenfalls ausgewiesen werden?«
    »Die weisen mich nicht aus«, sagte Andras. »Nicht weil ich mich für die Ideale Frankreichs einsetze.«
    »Aber sicher würden sie das«, gab Madame Morgenstern

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