Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
besser vor! Dieser kleine salopard würde dir genauso schnell die Kehle durchschneiden, wie er dir ›Guten Tag‹ sagt.«
»Man macht sich keine Freunde, wenn man sich gegen alle stellt«, sagte der diplomatische Ben Yakov, dessen Hauptanliegen darin zu bestehen schien, so viele Menschen wie möglich zu seinen Bewunderern zu machen, Männlein wie Weiblein.
»Wen kümmert das?«, fragte Rosen. »Wir reden hier schließlich nicht über ein Kaffeekränzchen.«
Im Stillen gab Andras Rosen recht. Seit des niemals geklärten Zwischenfalls mit Polaner am Anfang des Studienjahres hatte er seine Zweifel bezüglich Lemarque. Er hatte ihn genauer beobachtet und nicht umhingekonnt zu registrieren, auf welche Weise er Polaner ansah: als habe er etwas Anziehendes und Abstoßendes zugleich an sich oder als würde sein Abscheu vor Polaner ihn irgendwie befriedigen. Lemarque suchte immer wieder Polaners Nähe, fand Vorwände, um im Unterricht mit ihm zu sprechen: Ob er sich Polaners Pantograf leihen könne? Ob er wohl Polaners Lösungsweg für diese schwierige Statikaufgabe sehen dürfe? Ob das vielleicht Polaners Schal sei, den er im Hof gefunden habe? Polaner war offensichtlich nicht bereit einzugestehen, dass Lemarques Motive womöglich unlauter waren. Doch Andras traute dem Kerl nicht, genauso wenig wie den Studenten mit den zusammengekniffenen Augen, die neben ihm in der Mensa saßen, eine deutsche Zigarettensorte rauchten und hoch zugeknöpfte Hemden und Armeejacken trugen, als seien sie jederzeit kampfbereit. Anders als die übrigen Studenten trugen sie ihr Haar kurz, und die Stiefel waren immer gewichst. Andras hatte gehört, wie sie von einigen verächtlich als la garde bezeichnet wurden. Es gab aber auch andere, die ihre Weltsicht subtiler zum Ausdruck brachten: Sie blickten einfach an Andras, Rosen, Polaner und Ben Yakov vorbei, obwohl sie sich jeden Tag auf dem Gang oder im Hof begegneten.
»Wir müssen uns in diese Gruppen einschleusen«, sagte Rosen. »In die Front de la Jeunesse. Le Grand Occident. Zu den Treffen gehen und herausfinden, was sie im Schilde führen.«
»Das ist eine tolle Idee«, sagte Ben Yakov. »Dann erwischen sie uns und drehen uns den Hals um.«
»Was glaubst du überhaupt, was die vorhaben?«, fragte Polaner, der langsam wütend wurde. »Es ist ja nicht so, dass sie ein Pogrom in Paris auslösen wollten.«
»Warum nicht?«, gab Rosen zurück. »Meinst du, die hätten nicht darüber nachgedacht?«
»Können wir nicht einfach über etwas anderes sprechen?«, bat Ben Yakov.
Rosen schob seine Kaffeetasse von sich. »Na, klar«, sagte er. »Warum erzählst du uns nicht von deiner jüngsten Eroberung? Was könnte wichtiger und dringlicher sein?«
Ben Yakov lachte über Rosens Spruch, was den nur noch wütender machte. Er stand auf, warf ein paar Münzen auf den Tisch, nahm seinen Mantel und steuerte auf den Ausgang zu. Andras griff seinen eigenen Hut und folgte ihm; er konnte es nicht ertragen, wenn ein Freund zornig davonlief. An der Ecke von Saint-Germain und Saint-Jacques holte er ihn ein; gemeinsam blieben sie dort stehen und warteten, bis die Ampel umsprang.
»Du glaubst doch nicht, dass ich Unsinn erzähle, oder?«, fragte Rosen, die Hände tief in den Taschen, den Blick auf Andras gerichtet.
»Nein«, begann Andras und suchte die Worte auf Französisch für das, was er sagen wollte. »Du versuchst nur, ein paar Schachzüge weiter zu denken.«
»Ah«, machte Rosen und wurde fröhlicher. »Spielst du Schach?«
»Früher, mit meinem Bruder. Aber ich war nie besonders gut. Mein älterer Bruder hatte ein Buch mit Verteidigungen von einem russischen Großmeister gelesen. Ich konnte nichts gegen ihn ausrichten.«
»Konntest du das Buch nicht selbst lesen?«, fragte Rosen grinsend.
»Das hätte ich getan, wenn er es nicht so gut versteckt hätte!«
»Mehr will ich ja auch nicht. Nur dieses Buch finden.«
»Da wirst du nicht lange suchen müssen«, sagte Andras. »Überall im Quartier Latin hängen Plakate von diesen Treffen der Front de la Jeunesse.«
Sie hatten den Petit Pont am Ende der Rue Saint-Jacques erreicht und überquerten sie gemeinsam in der Dämmerung. Als sie auf die Place du Parvis Notre Dame traten, fingen die Türme der Kathedrale gerade die letzten Strahlen der untergehenden Sonne ein. Die beiden Männer blieben stehen, um die grausigen Heiligen links und rechts der Portale zu betrachten; einer hielt seinen abgetrennten Kopf in der Hand.
»Weißt du, was ich tun
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