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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Bedeutung für sein jetziges Leben zu haben.
    Polaner öffnete die Augen und sah Andras an. Andras zupfte Ben Yakov am Ärmel. »Polaner«, sagte er. »Kannst du mich hören?«
    »Sind sie hier?«, fragte Polaner kaum verständlich.
    »Wir sind hier«, sagte Andras. »Schlaf weiter. Wir lassen dich nicht allein.«

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    13.
Der Besucher
    ANDRAS WAR SEIT SEINER ANKUNFT in Paris im September nicht mehr am Gare de’l Est gewesen. Als er nun, Ende Januar, auf dem Bahnsteig stand und auf Tibors Zug wartete, staunte er über das Ausmaß an Ahnungslosigkeit, mit dem er vor wenigen Monaten hergekommen war. Er hatte so gut wie nichts über Architektur gewusst. Nichts über die Stadt. Weniger als nichts über die Liebe. Nie hatte er den nackten Körper einer Frau berührt. Hatte kein Französisch gekonnt. Die SORTIE - Schilder über den Ausgängen hätten ebenso gut DU IDIOT ! bedeuten können. Die Ereignisse der letzten Tage hatten ihm nur deutlicher vor Augen geführt, wie wenig er noch immer von der Welt wusste. Er hatte das Gefühl, den Umfang seiner eigenen Unerfahrenheit, seiner eigenen Unwissenheit erst jetzt ansatzweise zu erkennen; kaum dass er damit begonnen hatte, daran zu arbeiten. Andras hatte gehofft, dass er sich erwachsener fühlen würde, wenn er seinen Bruder wiedersähe, dass er ein Mann wäre, der mit einer weiteren Welt vertraut war. Das Gegenteil schien der Fall zu sein, aber daran konnte er jetzt nichts ändern. Tibor würde ihn so nehmen müssen, wie er war.
    Um Viertel nach fünf fuhr der Westeuropa-Express in den Bahnhof ein, erfüllte die Kuppel aus Glas und Eisen mit dem Kreischen seiner Bremsen. Schaffner klappten die Stufen herunter und stiegen aus; Passagiere quollen hervor, Männer und Frauen, abgespannt von der durchreisten Nacht. Junge Männer in Andras’ Alter, schlaflos und unsicher im winterlichen Licht des Bahnhofs, blinzelten die Schilder an und hielten Ausschau nach ihrem Gepäck. Andras suchte die Gesichter der Reisenden ab. Als immer mehr vorbeieilten, ohne dass er Tibor erkannte, bekam er kurz Angst, sein Bruder habe sich doch entschieden, nicht zu kommen. Aber dann legte ihm jemand die Hand auf die Schulter, Andras drehte sich um, und da stand Tibor Lévi auf dem Bahnsteig.
    »Na, dass ich dich hier treffe!«, sagte er und zog Andras an sich.
    Ein sprudelndes Gefühl der Freude stieg in ihm auf, eine traumähnliche Erleichterung. Mit ausgestreckten Armen hielt er seinen Bruder fest. Tibor musterte Andras von Kopf bis Fuß, und sein Blick verweilte auf seinen durchlöcherten Schuhen.
    »Gut, dass du einen Bruder hast, der Schuhverkäufer ist«, sagte er. »Oder war. Diese kaputten Oxfords halten doch keine Woche mehr.«
    Sie holten Tibors Gepäck und nahmen ein Taxi ins Quartier Latin, eine Fahrt, die Andras erstaunlich kurz und direkt vorkam; er erkannte, wie gründlich sein erster Pariser Taxifahrer ihn betrogen hatte. Sie flogen den Boulevard de Sébastopol hinunter, über die Île de la Cité, und im nächsten Moment bogen sie bereits in die Rue des Écoles ein. Das Quartier Latin duckte sich in der diesigen Luft, die Bürgersteige waren bevölkert mit Regenschirmen. Die Brüder trugen Tibors Taschen eilig durch den Nieselregen und schleppten sie die Treppen hinauf. Als sie Andras’ Dachkammer erreichten, blieb Tibor in der Tür stehen und lachte.
    »Was ist?«, fragte Andras. Er war stolz auf sein schäbiges Zimmer.
    »Es ist genau so, wie ich es mir vorgestellt habe«, sagte Tibor. »Bis ins kleinste Detail.«
    Unter Tibors Blick schien das Apartment vielleicht zum ersten Mal vollständig in Andras’ Besitz überzugehen, so als füge es sich durch seine Besichtigung plötzlich in die Reihe der Orte ein, an denen Andras bisher gelebt hatte, in das Leben, das er geführt hatte, bevor er im September am Bahnhof Nyugati in einen Zug gestiegen war. »Komm herein!«, sagte Andras. »Zieh den Mantel aus. Ich mache den Ofen an.«
    Tibor legte seinen Mantel ab, ließ Andras aber nicht das Feuer entzünden. Es war völlig unwichtig, dass sie sich in Andras’ Dachstube befanden und Tibor seit so vielen Stunden unterwegs war. So war es immer bei ihnen gewesen: Der Ältere kümmerte sich um den Jüngeren. Wenn Andras Mátyás einen Besuch in dessen Wohnung abgestattet hätte, wäre er derjenige gewesen, der das Zündholz angerissen und das Papier unter den Briketts aufgeschichtet hätte. Nach wenigen Minuten bullerte das Öfchen knisternd vor sich hin. Erst da zog Tibor seine

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