Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
worden zu sein.« Er schaute zu Andras und Ben Yakov auf. »Ihr helft mir doch beim Suchen, oder?«
»Warum?«, gab Ben Yakov zurück. »Damit wir ihnen die Schädel einschlagen können?«
»Oh, entschuldige bitte«, sagte Rosen. »Du willst wahrscheinlich nicht riskieren, dass dir jemand deine hübsche Nase lädiert.«
Ben Yakov sprang vom Stuhl und packte Rosen am Hemdkragen. »Glaubst du vielleicht, ich finde es schön, ihn hier liegen zu sehen?«, zischte er. »Glaubst du, dass ich sie nicht selbst umbringen möchte?«
Rosen befreite sich aus Ben Yakovs Griff. »Es geht nicht nur um ihn . Die Leute, die ihm das angetan haben, würden es auch mit uns machen.« Er nahm seinen Mantel und warf ihn sich über den Arm. »Ist mir egal, ob ihr mitkommt oder nicht. Ich werde die jetzt suchen, und wenn ich sie gefunden habe, werden sie für das Rechenschaft ablegen, was sie getan haben.« Er setzte sich seine Mütze auf den Kopf und ging die Station hinunter.
Ben Yakov legte eine Hand in den Nacken und schaute auf Polaner hinab. Dann setzte er sich seufzend wieder neben Andras. »Sieh ihn dir an! Mein Gott, warum musste er sich auch mitten in der Nacht mit Lemarque treffen? Was dachte er sich bloß dabei? Er kann doch nicht … was die anderen sagen.«
Andras beobachtete, wie Polaners Brust sich hob und senkte, eine schwache Bewegung unter der Decke. »Und was wäre, wenn er es doch ist?«, fragte er.
Ben Yakov schüttelte den Kopf. »Glaubst du das?«
»Unmöglich ist es nicht.«
Ben Yakov legte das Kinn auf die Brust und starrte auf das Bettgitter. Im Moment hatte er jegliche Ähnlichkeit mit Pierre Fresnay verloren. Seine Augen waren überschattet und feucht, seine Lippen zu einem krummen Strich verzogen. »Da war mal was«, sagte er, langsam. »Einmal, als wir uns mit Rosen und dir im Café treffen wollten, da sagte er etwas über Lemarque. Er meinte, Lemarque wäre gar kein richtiger Antisemit – er würde sich selbst hassen, nicht die Juden. Er müsste den anderen etwas vorspielen, damit keiner merkt, wie er tatsächlich ist.«
»Was hast du dazu gesagt?«
»Ich hab gesagt, Lemarque könnte mich mal kreuzweise.«
»Das hätte ich auch gesagt.«
»Nein«, sagte Ben Yakov. »Du hättest zugehört. Du hättest irgendwas Intelligentes darauf geantwortet. Du hättest Polaner gefragt, wie er darauf käme.«
»Er ist ein sehr zurückhaltender Mensch«, sagte Andras. »Wenn du ihn nach dem Grund gefragt hättest, wäre er wohl auch nicht offener gewesen.«
»Aber ich wusste, dass irgendwas nicht stimmt. Das musst du auch bemerkt haben. Du hast doch mit ihm an diesem Projekt gearbeitet. Man merkte, dass er nicht schlief, und er war so still, wenn Lemarque in der Nähe war – noch ruhiger als sonst.«
Andras wusste nicht, was er sagen sollte. Er war so beschäftigt gewesen mit seinen Gedanken an Klara, mit seiner Vorfreude auf Tibors Besuch, mit seiner eigenen Arbeit. Für ihn war Polaner eine Konstante in seinem Leben, er kannte ihn als zurückhaltend und umsichtig, manchmal auch grüblerisch; aber Andras wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Polaner persönlichen Kummer haben könnte, der so gewaltig war wie sein eigener. Wenn die Affäre mit Klara schon kompliziert war, wie viel schwerer musste es dann für Polaner gewesen sein, sich heimlich zu Lemarque hingezogen zu fühlen? Andras hatte sich noch nicht oft vorgestellt, wie es sein mochte, sich als Mann für Männer zu interessieren. Es gab natürlich ungezählte weibische Männer und knabenhafte Frauen in Paris, und jeder kannte die berühmten Clubs und Bälle, wo sie sich trafen: Magic-City, das Monocle, der Bal de la Montagne-Sainte-Geneviève; doch diese Welt schien nichts mit Andras’ Leben zu tun zu haben. Welche Erfahrungen hatte er selbst damit gemacht? Auf dem Gimnázium hatte es Jungen gegeben, die Freundschaften romantischer Natur pflegten, Beziehungen voller Intrigen und Treuebrüche. Und dann gab es jene gemeinsamen Erlebnisse, als er mit seinen Klassenkameraden in einer Reihe gestanden hatte, die Hose um die Knöchel, und sie sich im Halbdunkel selbst befriedigten. Einen Schüler gab es auf der Schule, von dem alle sagten, er bevorzuge Jungen – Willi Mandl, ein schlanker Blondschopf, der Klavier spielte, weiße bestickte Socken trug und eines Nachmittags in einem Gebrauchtwarenladen dabei beobachtet worden war, wie er verträumt einen blauen Seidenbeutel streichelte. Doch das gehörte alles zum Nebel der Kindheit und schien keine
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