Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Schuhe aus und krabbelte in Andras’ Bett.
»Was für eine Wohltat!«, sagte er. »Die Nacht im Zug war schrecklich.« Er zog die Decke über sich, und im nächsten Moment war er eingenickt.
Andras legte seine Bücher auf den Schreibtisch und versuchte zu lernen, konnte sich aber nicht so recht konzentrieren. Er wollte wissen, wie es Mátyás und den Eltern ging. Und er wollte Nachrichten aus Budapest – nicht von der Politik oder den dortigen Problemen, über die man in den ungarischen Tageszeitungen lesen konnte, sondern Neuigkeiten aus der Gegend, in der sie gelebt hatten, von den Menschen, die sie kannten, von den unzähligen kleinen Veränderungen, die der Lauf der Zeit mit sich brachte. Außerdem wollte er von dem schrecklichen Überfall auf seinen Freund erzählen. Er war am Morgen bei ihm gewesen, und Polaner hatte noch schlimmer ausgesehen als am Tag zuvor, das Gesicht zugeschwollen, die Stirn leichenblass und fiebrig. Der Atem hatte in seiner Kehle gerasselt, und die Schwestern hatten sich über ihn gebeugt, seine Wunden verbunden und ihm Flüssigkeit zur Erhöhung des Blutdrucks eingeflößt. Eine Gruppe von Ärzten versammelte sich am Fußende des Bettes und diskutierte die Vor- und Nachteile einer Operation. Die Symptome für innere Blutungen waren noch akut, aber die Ärzte konnten sich nicht einigen, ob eine Operation notwendig sei oder ob die Blutungen von selbst aufhören würden. Andras bemühte sich, ihr schnelles medizinisches Fachchinesisch zu entschlüsseln, sich durch das Puzzle französischer Anatomiebegriffe zu finden, doch er verstand kaum die Hälfte, und seine Angst hielt ihn davon ab, Fragen zu stellen. Die Vorstellung, dass Polaner aufgeschnitten wurde, war furchtbar, noch schlimmer aber war es, sich die ungestillten Blutungen in ihm vorzustellen. Andras war geblieben, bis Professor Vago kam und die Krankenwache übernahm; er wollte nicht, dass Polaner aufwachte und allein war. Ben Yakov war an diesem Morgen nicht aufgetaucht, und niemand hatte von Rosen gehört, seit er das Krankenhaus auf der Suche nach Lemarque verlassen hatte.
Andras zwang sich, in sein Lehrbuch zu schauen: Seine Statikaufgaben verschwammen zu einem ameisenartigen Gewimmel. Er zwang die Ziffern und Buchstaben in eine verständliche Ordnung, schrieb saubere Zahlenreihen auf ein leeres Blatt Millimeterpapier. Er berechnete die Kraftvektoren, die auf fünfzig Eisenstangen in einer tragenden Wand aus bewehrtem Beton wirkten, bestimmte den Punkt höchster Spannung am Stützpfeiler einer Kathedrale, kalkulierte die Windschwingung einer hypothetischen Stahlkonstruktion von der zweifachen Höhe des Eiffelturms. Jedes Bauwerk besaß seine stille innere Mathematik, die Zahlen schwebten im Gerüst seiner Konstruktionsweise. Eine Stunde verging, während Andras sich durch die Aufgaben arbeitete. Schließlich setzte Tibor sich stöhnend im Bett auf.
»Orrh«, machte er. »Bin ich noch in Paris?«
»Leider ja«, sagte Andras.
Tibor bestand darauf, Andras zum Essen einzuladen. Sie gingen in ein baskisches Restaurant, in dem es gute Ochsenschwanzsuppe geben sollte. Der Kellner war ein breitschultriger Grobian, der die Teller auf den Tisch knallte und ständig in Richtung Küche fluchte. Die Suppe war dünn, das Fleisch zerkocht, aber sie tranken kräftiges baskisches Bier, das Andras rotwangig und rührselig machte. Hier war nun endlich sein Bruder, hier saßen sie zusammen, aßen in einer fremden Stadt – ganz nach Art der erwachsenen Männer, zu denen sie geworden waren. Ihre Mutter hätte laut gelacht, sie gemeinsam in dieser typisch männlichen Gaststätte zu sehen, wie sie sich über ihre Bierkrüge beugten.
»Sei ehrlich«, sagte Andras. »Wie geht es Anya? Ihre Briefe sind immerzu fröhlich. Ich habe Angst, dass sie mir nicht sagt, wenn etwas nicht in Ordnung ist.«
»Ich war am Wochenende, bevor ich losfuhr, in Konyár«, sagte Tibor. »Mátyás war auch da. Anya versucht Apa zu überreden, den Winter in Debrecen zu verbringen. Sie will ihn in der Nähe eines guten Arztes wissen, falls er wieder eine Lungenentzündung bekommt. Er weigert sich natürlich. Er behauptet steif und fest, er würde nicht krank werden – als hätte er das in der Hand! Und wenn ich für Anya Partei ergreife, fragt er mich, wer ich mir einbilde zu sein, dass ich ihm Vorschriften mache. Du bist noch kein Arzt, Tibi, sagt er dann. Und droht mir mit dem Finger.«
Andras lachte, obwohl er wusste, dass es eine ernste Angelegenheit war; beiden
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