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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Brille ab, wischte die Gläser mit seinem Taschentuch und setzte sie wieder auf.
    »Im Zug habe ich mich mit einem Mann unterhalten, der vor Kurzem in München war«, sagte er. »Ein ungarischer Journalist, der über eine Kundgebung dort berichten sollte. Er hat zugesehen, wie drei Männer totgeschlagen wurden, weil sie eine antijüdische Zeitung zerrissen hatten. Aufrührer wurden sie in der deutschen Presse genannt. Einer von ihnen war ein hochdekorierter Offizier aus dem Großen Krieg.«
    Andras seufzte und rieb sich den Nasenrücken. »Bei Polaner steckte etwas Persönliches dahinter«, sagte er. »Sein Verhältnis zu einem der Täter ist nicht ganz geklärt.«
    »Es ist dieselbe Art von Hass, nur in kleinerem Maßstab«, sagte Tibor. »Widerwärtig, von welcher Seite man es auch betrachtet.«
    »Es war närrisch von mir zu glauben, hier wäre alles anders.«
    »Europa verändert sich«, sagte Tibor. »Überall wird es trostloser. Aber ich hoffe, dass für dich nicht alles trüb gewesen ist bisher.«
    »Nein, war es nicht.« Er schaute Tibor an und brachte ein Lächeln zustande.
    »Was ist, Andráska?«
    »Nichts.«
    »Hast du ein Geheimnis? Hast du vielleicht eine heimliche Affäre?«
    »Da musst du mir schon etwas Stärkeres zu trinken besorgen«, sagte Andras.
    In einer nahe gelegenen Bar bestellten sie Whisky, und Andras erzählte Tibor alles: dass er bei den Morgensterns eingeladen worden war, dass er den Namen und die Anschrift des Briefes wiedererkannt hatte, dass er sich in Klara statt in Elisabet verliebt hatte, sie ihre gegenseitige Anziehungskraft nicht unter Kontrolle bekamen. Dass Klara ihm nicht verraten wollte, was sie nach Paris geführt hatte und warum ihre Identität geheim gehalten werden musste. Anschließend saß Tibor da und starrte vor sich hin, das Glas in beiden Händen.
    »Wie viel älter ist sie?«
    Es gab keinen Weg drum herum. »Neun Jahre.«
    »Gütiger Gott«, sagte Tibor. »Du hast dich in eine erwachsene Frau verliebt. Das ist eine ernste Sache, Andras, weißt du das?«
    »Todernst.«
    »Stell das Glas ab. Ich rede mit dir.«
    »Ich höre zu.«
    »Sie ist einunddreißig«, sagte Tibor. »Sie ist kein Mädchen mehr. Was hast du für Absichten?«
    Andras’ Kehle zog sich zusammen. »Ich will sie heiraten«, sagte er.
    »Natürlich. Und wovon wollt ihr leben?«
    »Glaub mir, ich habe schon darüber nachgedacht.«
    »Viereinhalb Jahre«, sagte Tibor. »So lange dauert es noch, bis du deinen Abschluss machst. Dann ist sie sechsunddreißig. Wenn du so alt bist, wie sie jetzt, ist sie fast vierzig. Und wenn du vierzig bist, ist sie …«
    »Hör auf«, sagte Andras. »Ich kann selbst rechnen.«
    »Hast du es auch getan?«
    »Ja, und? Was ist schon dabei, wenn sie neunundvierzig ist und ich vierzig?«
    »Was passiert, wenn du vierzig bist und eine Dreißigjährige sich für dich interessiert? Glaubst du, dass du deiner Frau dann treu sein kannst?«
    »Tibi, muss das sein?«
    »Was ist mit ihrer Tochter? Weiß die, was zwischen dir und ihrer Mutter vorgeht?«
    Andras schüttelte den Kopf. »Elisabet hasst mich, und sie benimmt sich unmöglich gegenüber Klara. Ich bezweifle, dass sie begeistert wäre.«
    »Und József Hász? Weiß der, dass du dich in seine Tante verliebt hast?«
    »Nein. Er weiß nicht einmal, dass sie in Paris ist. Die Familie traut ihm nicht, was immer das zu sagen hat.«
    Tibor verschränkte die Finger. »Gütiger Gott, Andras, ich beneide dich nicht.«
    »Ich hatte irgendwie gehofft, dass du mir einen Rat geben würdest.«
    »Ich weiß, was ich tun würde: so schnell wie möglich Schluss machen.«
    »Du hast sie ja nicht einmal kennengelernt.«
    »Was würde das für einen Unterschied machen?«
    »Weiß ich nicht. Ich hatte gehofft, du würdest sie vielleicht sehen wollen. Bist du nicht mal neugierig?«
    »Doch, unglaublich«, erwiderte Tibor. »Aber ich werde nicht zu deinem Unglück beitragen. Nicht mal als Zuschauer.« Mit diesen Worten rief er den Kellner und bat um die Rechnung, dann wechselte er das Thema.
    Am Morgen nahm Andras Tibor mit zur École Spéciale, wo sie Vago in seinem Büro trafen. Als sie eintraten, saß Vago am Schreibtisch und telefonierte auf die ihm eigene Weise: den Hörer zwischen Kinn und Schulter geklemmt, mit beiden Händen wild gestikulierend. Er zeichnete die Form eines missratenen Gebäudes in die Luft, wischte es mit einer Armbewegung weg, dann entwarf er das nächste Bauwerk, diesmal mit einem Dach, das »flach aussah«, aber nicht

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