Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
war klar, wie krank Glücks-Béla gewesen und wie sehr ihre Mutter von ihm abhängig war. »Was werden sie tun?«
»Zuerst mal in Konyár bleiben.«
»Und Mátyás?«
Tibor schüttelte den Kopf. »Es gab eine komische Geschichte an dem Abend, bevor ich losfuhr. Mátyás und ich machten einen Spaziergang hinaus zu der Eisenbahnbrücke über dem Flüsschen, wo wir früher im Sommer immer Elritzen gefangen haben.«
»Ich weiß, wo du meinst«, sagte Andras.
»Es war eine kalte Nacht für einen Spaziergang. Die Brücke war vereist. Wir hätten überhaupt nicht draufgehen sollen. Egal, wir standen eine Zeit lang da und schauten in die Sterne und unterhielten uns über Anya und Apa und was Mátyás in dem Fall tun müsste, dass ihnen etwas zustieß, und er war wütend auf mich, du weißt schon – ich würde verschwinden, und er müsste sich um alles allein kümmern, und so weiter. Ich habe versucht, ihn zu beruhigen, gesagt, die Eltern kämen gut zurecht, und wenn etwas wirklich Schlimmes passierte, wären du und ich ja auch nicht aus der Welt, aber er meinte, wir würden niemals zurückkommen, du wärst für immer fort, und ich wäre auch bald weg. Und während wir über dem gefrorenen Flüsschen standen und diskutierten, hörten wir einen Zug kommen.«
»Ich weiß nicht, ob ich noch mehr hören will.«
»Mátyás meinte: ›Lass uns auf der Brücke bleiben, hier neben den Gleisen, auf den Schienenschwellen. Mal sehen, ob wir das Gleichgewicht halten können, wenn der Zug vorbeifährt. Du hast doch keine Angst, oder?‹ Der Zug raste heran. Und du kennst die Brücke, Andras. Die Schwellen stehen zu beiden Seiten der Schienen höchstens einen Meter heraus. Und sie ist vielleicht zwanzig Meter über dem Wasser. Ich will runter von der Brücke, zurück zum Ufer, aber Mátyás springt mitten auf die Gleise und stellt sich dem Zug entgegen. Er kommt immer näher. Das Scheinwerferlicht fällt schon auf ihn. Ich schreie ihn an, er soll da wegkommen, aber er bewegt sich nicht. ›Ich habe keine Angst‹, meint er. ›Soll er doch kommen.‹ Da bin ich zu ihm gelaufen und habe ihn mir über die Schulter geworfen wie einen Sack Sägemehl, und ich schwöre bei Gott, die Brücke war so stark vereist, dass ich fast ausgerutscht und wir beide erledigt gewesen wären. Ich hab ihn zum Ufer geschleppt und in den Schnee geworfen. Nur eine Sekunde später war der Zug da. Mátyás stand auf und lachte wie ein Verrückter, da bin ich auf ihn los und habe ihm einen Kinnhaken verpasst. Am liebsten hätte ich ihm das Genick gebrochen, dem kleinen Spinner.«
»Ich hätte ihm das Genick gebrochen.«
»Glaub mir, ich war kurz davor.«
»Er wollte nicht, dass du gehst. Schließlich bleibt er ganz allein zurück.«
»Eigentlich nicht«, sagte Tibor. »Er führt ein ganz schön buntes Leben in Debrecen. Nicht so wie wir zu unserer Schulzeit. Am nächsten Morgen haben wir uns wieder versöhnt, und ich begleitete ihn auf dem Weg nach Budapest bis nach Debrecen. Du solltest mal sehen, was er in diesem Nachtclub macht, wo er auftritt. Er könnte zum Film gehen. Er ist wie Fred Astaire, nur mit Handstandüberschlag rückwärts und Purzelbäumen. Und er bekommt Geld dafür! Ich würde mich ja für ihn freuen, wenn ich nicht Angst hätte, dass er völlig den Verstand verloren hat. Er steht kurz davor, von der Schule zu fliegen, weißt du. In Latein und Geschichte ist er durchgefallen, die anderen Fächer schafft er auch nur mit Mühe und Not. Ich bin mir sicher, dass er weg ist, sobald er genug Geld für eine Fahrkarte ins Ausland gespart hat. Anya und Apa wissen das auch.«
»Aber du hast ihnen nichts von der Sache auf der Brücke erzählt, oder?«
»Machst du Witze?«
Sie gaben dem Kellner ein Zeichen, noch eine Runde zu bringen. Während sie auf das Bier warteten, wollte Andras wissen, wie es in Budapest stand, was es Neues gab von der alten Hársfa utca und dem jüdischen Viertel.
»Es ist im Großen und Ganzen noch so wie bei deiner Abreise«, sagte Tibor. »Nur machen sich alle immer mehr Sorgen, dass Hitler Europa in einen neuen Krieg stürzt.«
»Ich will mir gar nicht ausmalen, was das für uns Juden bedeutet. Selbst hier in Frankreich.«
Der Kellner kam, und Tibor nahm einen langen, nachdenklichen Schluck vom baskischen Bier. »Also doch nicht so viel fraternité und égalité , wie du immer dachtest?«
Andras berichtete von der Veranstaltung von Le Grand Occident und dann von dem, was mit Polaner geschehen war. Tibor nahm seine
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