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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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gegen ein Porzellanwaschbecken lehnen. Vago zog seine eigene Jacke aus und legte sie über Polaners Brust. »Gut«, sagte er. »Sie kommen jetzt ins Krankenhaus, da wird man sich um Sie kümmern. Um den Rest sorgen wir uns später.«
    »Unsere Entwürfe«, sagte Polaner und berührte die zerknüllten Blätter aus Zeichenpapier.
    »Schon in Ordnung«, sagte Vago. »Die bekommen wir wieder hin.« Er hob die Zeichnungen auf und reichte sie vorsichtig an Andras weiter, als bestehe noch die Möglichkeit, sie zu retten. Als er draußen die Sirene des Sanitätswagens hörte, lief er los, um die Sanitäter zur Herrentoilette zu lotsen. Zwei Männer in weißen Uniformen kamen mit einer Trage herein; als sie Polaner daraufhievten, verlor er vor Schmerz das Bewusstsein. Andras hielt die Tür auf, sie trugen ihn in den Hof. Draußen hatte sich eine Menschentraube gebildet. Unter den Studenten, die zum Unterricht eintrafen, hatte sich die Nachricht schnell herumgesprochen. Die Sanitäter mussten sich einen Weg durch die Menge bahnen, den Pfad aus Steinplatten entlang.
    »Hier gibt’s nichts zu sehen!«, rief Vago. »Ab in den Unterricht!« Doch der Unterricht hatte noch nicht begonnen. Es war erst Viertel vor acht, und nicht ein einziger Student wandte sich ab, bis die Männer Polaner im Sanitätswagen verstaut hatten. Andras stand neben der Tür zum Hof und hielt Polaners verklumpte Zeichnungen wie einen Tierkadaver. Vago legte ihm die Hand auf die Schulter.
    »Kommen Sie mit in mein Büro!«, sagte er.
    Andras folgte ihm. Es war derselbe Hof, den er vor wenigen Minuten überquert hatte, dasselbe mit Raureif bedeckte Gras und dieselben grünen Bänke, dieselben Wege, die nass in der Sonne glänzten. Das wusste er, aber er konnte nicht mehr erkennen, was er zuvor darin gesehen hatte. Ihn verstörte die Erkenntnis, dass die Welt ihre Schönheit gegen diese Hässlichkeit tauschen konnte, und das im Zeitraum einer Viertelstunde.
    In seinem Büro erzählte Vago Andras von den anderen Fällen. Im vergangenen Februar hatte jemand die deutschen Wörter Dreck und Schwein auf die Abschlussprojekte mehrerer jüdischer Studenten geschmiert, und im letzten Frühjahr war ein Student von der Elfenbeinküste abends aus dem Atelier verschleppt und auf dem Friedhof hinter der Schule verprügelt worden. Auch ihm hatte man eine Beleidigung auf die Brust geschrieben, eine rassistische Schmähung. Doch keiner der Täter war identifiziert worden. Wenn Andras wichtige Informationen hätte, würde er allen helfen, wenn er sie weitergäbe.
    Andras zögerte. Er saß auf seinem angestammten Hocker und rieb mit dem Daumen über seines Vaters Taschenuhr. »Was passiert, wenn sie geschnappt werden?«
    »Dann werden sie befragt. Wir werden disziplinarische und gerichtliche Schritte einleiten.«
    »Und dann werden die Freunde der Täter noch Schlimmeres anrichten. Denen wäre ja klar, dass Polaner geredet hat.«
    »Und wenn wir nichts tun?«, fragte Vago.
    Andras ließ die Uhr in seine Jackentasche gleiten. Er überlegte, was sein Vater ihm in einer solchen Situation raten würde. Er überlegte, was Tibor ihm raten würde. Es bestand kein Zweifel: Beide würden ihn wegen seines Zögerns für einen Feigling halten.
    »Polaner sprach von Lemarque«, sagte er. Zuerst kam es nur flüsternd heraus, dann wiederholte er den Namen noch einmal lauter. »Lemarque und ein paar andere. Ich weiß nicht, wer noch.«
    »Fernand Lemarque?«
    »Das hat Polaner gesagt.« Und er erzählte Vago alles, was er wusste.
    »Gut«, sagte Vago. »Ich werde jetzt mit Perret sprechen. In der Zwischenzeit« – er schlug sein Lehrbuch mit den architektonischen Fachausdrücken an der Seite auf, wo die Stützkonstruktionen von Dächern mit ihren vertikalen poinçons , den stützenden contre-fiches und den rippenähnlichen arbalétriers abgebildet waren – »bleiben Sie hier und lernen«, sagte er und ließ Andras allein im Büro zurück.
    Andras konnte sich natürlich nicht konzentrieren; er bekam das Bild von Polaner einfach nicht aus dem Kopf. Immer wieder sah er seinen Freund am Boden liegen, das Wort in schwarzer Tinte auf seiner Brust, die zerknüllten Zeichnungen neben ihm. Andras kannte Verzweiflung und Einsamkeit; er wusste, wie es war, Tausende von Kilometern fern von zu Hause zu sein; er wusste, wie es war, ein Geheimnis zu haben. Aber in welche Abgründe von Elend musste Polaner hinabgestiegen sein, um Lemarque als Liebhaber in Erwägung zu ziehen? Als einen Menschen, mit dem er

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