Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
nachts auf dem Männerklo einen intimen Moment teilen wollte?
Keine fünf Minuten vergingen, da kam Rosen in Vagos Büro gestürmt, seine Mütze in der Hand. Ben Yakov stand hinter ihm, beschämt, als hätte er vergeblich versucht, Rosen vom Gang nach oben abzuhalten.
»Wo ist das kleine Schwein?«, rief Rosen. »Wo ist der Hund? Wenn er hier oben versteckt wird, bringe ich sie alle um, das schwöre ich bei Gott!«
Vago kam aus Perrets Büro den Gang hinuntergelaufen. »Mäßigen Sie sich!«, sagte er. »Wir sind hier nicht in einer Bierschenke. Wo ist wer?«
»Sie wissen, wen ich meine«, schrie Rosen. »Fernand Lemarque. Der flüstert doch immer sale Juif . Er hat die Plakate für die Front de la Jeunesse aufgehängt. Vereinige dich, Jugend Frankreichs! und dieser ganze Mist, in der Salle des Sociétés Savantes, ausgerechnet dort. Die sind antiparlamentarisch, antisemitisch, antialles. Lemarque ist einer von den kleinen Handlangern. Es gibt eine ganze Gruppe davon. Studenten aus dem dritten Jahr, aus dem fünften. Von hier, von der Beaux-Arts, von anderen Schulen in der ganzen Stadt. Ich weiß das. Ich bin auf den Versammlungen gewesen. Ich habe gehört, was sie mit uns vorhaben.«
»Gut«, sagte Vago. »Das erzählen Sie mir besser alles nach der Atelierarbeit.«
»Nach dem Atelier?« Rosen spie auf den Boden. »Jetzt! Ich verlange die Polizei!«
»Wir haben die Polizei bereits verständigt.«
»Blödsinn! Sie haben niemanden gerufen. Sie wollen keinen Skandal.«
Jetzt kam Perret persönlich den Gang hinunter, sein grauer Umhang wogte hinter ihm her. »Es reicht«, sagte er. »Wir kümmern uns darum. Gehen Sie in Ihr Atelier.«
»Nein«, sagte Rosen. »Dann suche ich dieses kleine Schwein eben selbst.«
»Junger Mann«, sagte Perret. »Diese Situation hat Aspekte, die Sie nicht verstehen. Sie sind kein Cowboy. Wir sind hier nicht im Wilden Westen. In diesem Land gibt es ein Rechtssystem, das wir bereits in Gang gesetzt haben. Wenn Sie jetzt nicht die Stimme senken und sich wie ein Gentleman benehmen, werde ich Sie aus der Schule entfernen lassen müssen.«
Rosen machte kehrt und ging die Treppe hinunter, leise vor sich hin fluchend. Andras und Ben Yakov folgten ihm ins Atelier, wo Vago zehn Minuten später zu ihnen stieß. Um neun Uhr knüpften sie an die Lektion vom Vortag an, als sei der Entwurf des perfekten maison particulier das einzig Wichtige auf der Welt.
Am Nachmittag besuchten Andras, Rosen und Ben Yakov Polaner im Krankenhaus auf einer langen, von Winterlicht erfüllten Station. Er lag in einem hohen Bett, die Beine auf Kissen gebettet, die Nase mit einer Gipsbrücke gerichtet, tiefviolette Blutergüsse um die Augen. Drei gebrochene Rippen. Gebrochene Nase. Beträchtliche Quetschungen an Oberkörper und Beinen. Zeichen innerer Blutungen – aufgetriebener Bauch, unbeständiger Puls und schwankende Temperatur, Einblutungen unter der Haut. Symptome von Schock. Nachwirkungen von Unterkühlung. Das alles erklärte ihnen der Arzt. Eine Tabelle zu Füßen von Polaners Bett zeigte die viertelstündliche Entwicklung von Temperatur, Puls und Blutdruck. Als sie sich um sein Bett scharten, schlug Polaner die geschwollenen Augen auf, sprach sie mit unbekannten polnischen Namen an und verlor wieder das Bewusstsein. Eine Krankenschwester kam mit zwei Wärmflaschen den Gang hinunter und schob sie unter Polaners Decke. Sie prüfte seinen Puls und Blutdruck, nahm die Temperatur und trug die Zahlen in die Tabelle ein.
»Wie geht es ihm?«, fragte Rosen und stand auf.
»Das wissen wir noch nicht«, sagte die Krankenschwester.
»Das wissen Sie nicht? Ist das hier kein Krankenhaus? Sind Sie keine Krankenschweseter? Ist es nicht Ihre Aufgabe, Bescheid zu wissen?«
»Es ist gut, Rosen«, sagte Ben Yakov. »Das ist nicht ihre Schuld.«
»Ich möchte noch einmal mit diesem Arzt reden«, sagte Rosen.
»Der macht leider momentan seine Visite.«
»Herrgott noch mal! Hier liegt unser Freund. Ich will einfach nur wissen, wie es um ihn steht.«
»Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich könnte«, gab die Krankenschwester zurück.
Rosen setzte sich wieder und barg den Kopf in den Händen. Er wartete, bis die Krankenschwester die Station verlassen hatte. »Ich schwöre bei Gott«, sagte er. »Ich schwöre bei Gott, wenn ich diese Schweine erwische! Ist mir egal, was mit mir passiert. Ist mir egal, wenn ich wirklich von der Schule fliege. Wenn’s sein muss, gehe ich in den Knast. Denen wird noch leidtun, geboren
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