Die unsichtbare Handschrift
verstand den Seitenhieb auf seine eigene Person nicht, sondern bekundete mit heftigem Nicken seine Zustimmung.
»Wollen hoffen, dass du nicht zu husten anfängst«, meinte Vitus leise. »Ich habe schon genug Kummer.«
Kaspar sah ihn erschrocken an. »Warum, was ist denn passiert?«
»Nichts, Kaspar, nichts ist passiert. Das ist ja mein Kummer.« Er seufzte tief und fuhr sich mit beiden Händen durch das wellige schwarze Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel.
»Ich verstehe nicht.« Hilflos griff Kaspar nach dem fleckigen Leinenlappen und rieb sich die Finger ab, obwohl sie ausnahmsweise nicht schwarz von Tinte waren. Esther trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Arm. Zwar war sie beinahe zehn Jahre jünger als ihr Bruder, doch hatte sie manches Mal ein tiefes Bedürfnis, ihn zu beschützen. Sie kannte seine guten Seiten ebenso wie seine Schwächen. Zu Letzteren gehörte gewiss, dass sein Geist ein wenig, nun, man konnte wohl sagen, ein wenig einfach war. Normalerweise hatte Vitus Geduld mit Kaspar, doch es kam auch vor, dass es mit ihm durchging, wenn dieser gar zu langsam im Geiste war. So wie jetzt. Esther dagegen ahnte, welche Sorgen den Geliebten umtrieben. Es war ja immer das gleiche traurige Lied.
Vitus ließ sich auf einen Holzschemel fallen, stützte die Ellbogen auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich weiß«, murmelte er, »ich weiß, dass du es nicht verstehst.« Ein tiefer Seufzer, dann rieb er sich die Augen und blickte die beiden an. »Bitte verzeiht! Es ist nur so, dass diese Steuer, die ich für den Handel mit England zu berappen habe, mich noch vollends ruiniert. Die Kaufleute von Köln oder Tiel sind davon befreit. Mehr noch, sie erhalten immer mehr Rechte und Vergünstigungen. Wie soll unsereins noch dagegen anstinken?«
Esther zog missbilligend die Augenbrauen hoch.
»Aber es ist doch wahr«, ereiferte er sich nun erst recht. »Würden die Geschäfte besser laufen, könnte ich dich endlich heiraten. Dann müsste Kaspar dich nicht durchbringen. Er ist ja kaum imstande, sich selbst zu füttern.« Vitus schnaufte und strich sich erneut durch das Haar.
»Du bist ungerecht, Vitus«, protestierte Kaspar. »Wir Schreiber sind alle Hungerleider. Es ist ein schwerer Beruf, der nicht recht entlohnt wird. Und im Winter ist die Zeit kurz, in der sich schreiben lässt. Es ist nicht meine Schuld. Du dagegen bist Kaufmann. Allerorts hört man doch, dass die Kaufleute von Lübeck immer bessere Geschäfte machen. Die ersten lassen sich gar Häuser aus Stein bauen.«
Vitus sprang auf. »Sie treiben eben Handel mit Gotland, nicht mit England. Und es sind nicht nur die Kaufleute von Lübeck, lieber Kaspar, es sind Fernhändler, die ihre Geschäfte hier abwickeln. Fernhändler aus dem Rheinland, zum Beispiel aus Köln. Früher, ja, da haben wir von dort noch Waren gekauft und weiterverkauft. Oder wir haben den Kölnern Waren gebracht. Jetzt streichen sie die Profite selber ein.« Er schüttelte den Kopf und ging zwischen den Pulten und dem Regal hin und her, in dem das Eisenvitriol, Kupfer- und Bleireste, Harzbrocken, die Gänsekiele, Schalen mit Baumrinde, einige Rollen Pergament und natürlich Tongefäße mit Tinte aufbewahrt wurden.
»Warum treibst du nicht Handel mit Gotland?«, wollte Kaspar wissen.
Wieder schnaufte Vitus vernehmlich. »Wenn das so einfach wäre! Mein Vater hat mir nun einmal einen Getreidehandel hinterlassen. Weizen, Roggen aus Holstein oder Sachsen-Lauenburg und auch fertiges Mehl, das haben die Engländer immer gern von uns gekauft …«
Kaspar zuckte mit den Schultern, eine Geste, die Vitus endgültig zornig werden ließ.
»Du machst es dir leicht, hast stets gute Ratschläge parat, obwohl du von meinen Geschäften rein gar nichts verstehst. Hast du vergessen, dass ich neue Beziehungen nach Gotland und auch Norwegen spinnen wollte? Nur braucht es dafür erst ein kleines Vermögen. Ich muss an die Handelsplätze reisen, muss diese Beziehungen langsam aufbauen. Reisen kostet viel, Kaspar. Aber ich habe viel verloren, nachdem das Schiff, mit dem ich Getreide nach England geschickt habe, von Freibeutern überfallen wurde. Kapitän und Kaufgeselle tot, die Ware in den Händen von Halunken oder, kann sein, auf dem Grunde der Ostsee.« Er holte Luft. Esther wollte die Gelegenheit nutzen, ihn zu beschwichtigen. Sie wusste, dass ihn keine Schuld an seiner misslichen Lage traf, dass er einfach viel Pech gehabt hatte. Und Kaspar wusste es auch. »Wenn du wenigstens
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