Die unsichtbare Pyramide
Blick in die Vergangenheit. »Jemina erhebt sich von ihrem Lager«, berichtete er, was er sah. »Sie lässt ihre Puppe fallen und geht hinaus. Ich glaube, sie ist gar nicht richtig aufgewacht.« Er öffnete die Augen und deutete zu einer Öffnung in der Stoffwand. »Da entlang!«
Topra setzte sich in Bewegung und der Harem folgte ihm. Er durchquerte den Zeltpalast, als sei er selbst das schlafwandelnde Kind. Fürst Asfahan – sein Kopf war wieder von blauem Tuch verhüllt – blieb an seiner Seite, die Mutter folgte dichtauf, dann kamen die übrigen Frauen und zuletzt die Kinderschar. Als Topra ins Freie trat, erwartete ihn dort eine große Menge besorgter Angehöriger und Freunde, eigentlich das ganze Lager.
Der Seher ging zielstrebig nach Südwesten. Er folgte einer lang gezogenen Mulde, die vor Urzeiten ein Flussbett gewesen sein mochte. Bald blieben die Zelte zurück. Immer weiter ging er und einige Männer haderten schon mit sich, weil sie ohne ihre Pferde aufgebrochen waren, als er unvermittelt stehen blieb.
»Hier ist es passiert.«
Asfahans Augen wurden groß. Mutig stellte er die Frage, die allen Umstehenden im Kopf schwebte. »Du meinst, ihr ist ein Unglück geschehen?«
»Eine Löwin…« Seine Stimme ging in zahlreichen Klagerufen unter. Er musste ins Ohr des sichtlich erschütterten Fürsten schreien, um das Gesehene vollends zu beschreiben. »Eine Löwin hat sie ganz vorsichtig gepackt. Jeminas Körper ist wie gelähmt. Sie lässt sich ohne Gegenwehr davontragen.«
»Willst du damit andeuten, sie könnte noch leben?«, fragte Asfahan hoffnungsfroh.
»Die Löwin hat sie nicht verletzt. Mehr kann ich nicht sagen. Sie ist dort entlanggelaufen.« Topra deutete die Senke hinab.
»Kannst du abschätzen, wie weit?«
»Etwa eine Meile.«
»Dann nehmen wir die Pferde.«
Asfahan gab Befehle aus. Seine Männer liefen zum Lager zurück. Kurze Zeit später galoppierte ein Tross aus etwa einem Dutzend Reitern nach Süden. Topra hatte Mühe, nicht von seinem Schimmel zu fallen. Noch schwerer war es allerdings, die wild entschlossenen Teguar zurückzuhalten, als sie die Löwin fast erreicht hatten. Nur weil Asfahan sich regelmäßig nach seinem Seher umschaute, fiel ihm dessen aufgeregtes Winken auf.
»Sie lebt!«, verkündete Topra, nachdem der Fürst seinen Rappen vor ihm zum Stillstand gebracht hatte. Und auf einen Hügel deutend, fügte er hinzu: »Hinter dieser Kuppe da steht eine Tamariske. Die Löwin liegt im Schatten des Baumes…«
»Was ist mit Jemina?«
»Sie spielt mit der Katze.«
Asfahans Augen strahlten. »Ich habe zwar schon von Löwinnen gehört, die ihren Wurf verloren und sich anderweitig Ersatz besorgt haben, aber das…« Er schüttelte den Kopf.
»Ich schlage vor, Ihr lenkt die Löwin mit euren Männern ab. Sie wird versuchen, ihr adoptiertes Kind zu beschützen. Wenn sie sich weit genug von dem Baum entfernt hat, schnappe ich mir Jemina und gebe meinem Schimmel die Sporen.«
»Wirst du das schaffen?«
»Der Löwin ihr Kind zu entreißen?«
»Nein, auf einem galoppierenden Pferd sitzen zu bleiben und gleichzeitig meine Tochter festzuhalten. Ich habe gesehen, wie du… reitest.«
»Macht Euch keine Sorgen, Fürst. Meine Instinkte haben mich schon aus manch bedrohlicher Lage gerettet.«
»Also gut. So machen wir’s.«
Wieder gab Asfahan Befehle. Die Männer schwärmten aus.
Topra pirschte sich – gegen den Wind, damit die Löwin ihn nicht witterte – an die Tamariske heran. Sein Pferd hatte er in sicherer Entfernung zurückgelassen. Endlich konnte er die Löwin mit eigenen Augen sehen. Sie lagerte hechelnd unter dem Baum. Jemina turnte, vor Vergnügen quietschend, auf ihr herum. Plötzlich blickte die Löwin auf. Sie hatte einen von Asfahans Männern bemerkt. Topra hielt den Atem an.
Die Löwin erhob sich, nahm Jeminas Ärmchen in ihr Maul und zog das Mädchen in einen Busch, der unweit des Baumes stand. Dann trottete das Tier mutig der Gefahr entgegen. Die Teguar waren erfahrene Jäger. Sie machten ihre Sache gut. Während die Großkatze drohend grollte, schlich sich Topra zu dem Busch. Dort kauerte das Mädchen brav, als hätte seine richtige Mutter es zum Ausharren in dem Versteck ermahnt. Jemina war ein zierliches, hübsches Kind mit einem schwarzen Lockenkopf und riesigen dunklen Augen – kein Wunder, dass alle in sie vernarrt waren.
»Keine Angst!«, flüsterte Topra und streckte die Hände aus. »Komm, deine Mutter und dein Vater schicken mich.«
Das Mädchen
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