Die unsichtbare Pyramide
war.
»Ihr überschätzt meine Fähigkeiten, Fürst«, wiegelte Topra ab.
»Dann ist alle Hoffnung verloren. Wir haben das ganze Lager abgesucht. Auch in der Umgebung konnten meine Krieger nichts entdecken. Es ist, als hätte der Erdboden sie verschluckt.«
»Ist Jemina Eure Tochter?«
Die Augen im Ausschnitt des blauen Kopftuches bekamen wieder Glanz. »Ja! Meine Jüngste! Sie ist erst drei Jahre alt, aber alle lieben sie.«
»Das habe ich bemerkt.«
»Wie meinst du das?«
»Die Trauer über ihr Verschwinden hat das ganze Lager ergriffen.«
Asfahan nickte betrübt.
»Ich…« Topra schlürfte nervös an seinem Glas. Er wusste nicht, ob er überhaupt davon sprechen sollte.
»Ja?«
»Einen Versuch könnte ich ja wagen. Manchmal habe ich beim Wiederfinden von Gegenständen tatsächlich schon großes Glück gehabt.«
»Das würdest du wirklich für mich tun?«
Topra verstand, worauf der Fürst anspielte, und erwiderte ernst: »Der Vater trägt die Schuld, nicht das Kind.«
Anstatt den Gefangenen für seine Dreistigkeit an die zügelnde Wirkung von Stockhieben zu erinnern, begann Asfahan plötzlich damit, sein Kopftuch abzuwickeln. Es war erstaunlich lang und lag bald als großer Stoffhaufen vor dem Fürsten. Zum ersten Mal sah Topra das unverhüllte Gesicht eines Teguar. Die hohen Wangenknochen, die hellbraune Haut, die schmalen Züge, die weit auseinander liegenden Augen mit den vollen, schwarzen Brauen, das dichte, an erstarrte Lava erinnernde Haar – nicht anders hätte sich Topra einen Aristokraten der Wüste vorgestellt.
»Was siehst du?«, fragte Asfahan.
»Einen stolzen Mann«, erwiderte Topra, ohne lang nachzudenken.
»Die Teguar sind ein stolzes Volk. Da, wo kein Fremder Pfade sieht, folgen sie seit Jahrhunderten ihren Lebenslinien. Die Wüste ist ihre Heimat. Hier wandern sie, jagen und hüten ihr Vieh. Niemand wagte es, sie daran zu hindern, so wie sich keiner einen Löwen aufzustören getraut. Aber nun breitet sich in unserem Reich eine Krankheit aus wie Gangrän. Sie frisst unseren Lebensraum auf. Ihr Name ist Baqat. Das Land am Nil hält seine Kultur für die einzig wahre, alle anderen sind nichts wert, müssen unterworfen werden oder taugen bestenfalls dazu, nach der Pfeife des großen Pharao zu tanzen. Wir Teguar haben unsere Freiheit damit erkauft, dass wir ihm Sklaven liefern. Aber was ist das für eine Freiheit, junger Seher? Der große Beschwörer in Memphis sollte sich in Acht nehmen, weil sich die Kobra nicht immer von seiner Flöte narren lassen mag. Vielleicht wachsen ihre Giftzähne ja nach und plötzlich schlägt sie damit zu.«
Der Fürst hatte seinen Vortrag durch eine schnappende Geste mit der Hand untermalt, was Topra zusammenzucken ließ. »Ist das Euer wahres Gesicht?«
Asfahans Miene blieb unergründlich. »Vertrauen gewinnt man nicht durch Heuchelei. Ich brauche deine Hilfe.«
Topra erwiderte fest den Blick des Fürsten. Nach einer Weile nickte er. »Führt mich bitte zu ihrem Bett.«
»Jemina schläft bei ihrer Mutter und kein Mann außer mir darf in den Bezirk der Frauen eindringen, wenn er seinen Kopf behalten will.«
»Fürst, ich kann etwas, das ich nicht kenne, nur sehr schwer finden.«
Asfahan zögerte kurz, dann willigte er ein. Topra wurde von zwei verschleierten Frauen zu einer Wand aus blauem Tuch geleitet, hinter der sich ein Stoffflur verbarg, der zu einer weiteren Kissen- und Teppichlandschaft führte. Hier zeigte man ihm das Lager des Mädchens, ein Diwan aus grüner Seide in winzigen Maßen. Der Seher kniete davor nieder und hob eine kleine Stoffpuppe auf.
»Die gehört unserem kleinen Sonnenschein«, erklärte eine Frau.
»Und wer bist du?«, fragte Topra, den die Größe des Harems ein wenig irritierte.
»Mein Name ist Mesilla. Ich bin Jeminas Mutter.«
Topra nickte ihr freundlich zu, hob die Puppe an sein Gesicht, als könne er dadurch die Witterung aufnehmen, und schloss die Augen. Was ist passiert?, fragte er sich. Er spürte ein warmes Wogen, das aus den Tiefen seines Unterbewusstseins aufstieg. Hinter seinen Lidern entstand plötzlich ein Bild: ein Mädchen, das auf dem Diwan schlief.
»Sie hat einen Albtraum«, murmelte er, als geschehe es in diesem Moment. Das aufgeregte Tuscheln um ihn herum nahm er nur am Rande wahr.
»Er fällt in Trance«, flüsterte eine von Asfahans Frauen.
»Nein, er hat eine Vision«, widersprach eine andere.
Für Topra war es nur ein neuerliches »Durchstechen« des Faltentuches aus Zeit und Raum, ein
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