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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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üblicherweise vom Sattel aus durchführte. Ein Paar dunkle Augen suchten die Schatten unter der Zeltplane ab, bis es schließlich den Wasserträger der Karawane entdeckte.
    »Du da!«, rief Fürst Asfahan.
    Topra tippte sich auf die Brust. »Wer? Ich?«
    »Ja, komm bitte zu mir.«
    Aus dem Mund des Fürsten Worte wie »bitte« oder »danke« zu vernehmen war keineswegs ungewöhnlich – er behandelte seine Gefangenen stets mit einer distanzierten Höflichkeit –, aber der Ton seiner Stimme verwunderte den Angesprochenen dann doch. Da war nichts mehr von dem fordernden Stolz früherer Besuche, fast klang es wie Flehen.
    Topra schwang sich von der Kiste, lief zum Rand des Sonnendaches und deutete eine Verneigung an. »Fürst?«
    »Würdest du mich in mein Zelt begleiten?«
    Topra glaubte sich verhört zu haben. Weil er Asfahan nur mit offenem Mund anstarrte, fügte der hinzu: »Als wir deine Karawane eroberten, sollst du unsere Ankunft im Traum vorhergesehen haben. So wurde mir jedenfalls von eurem Führer berichtet. Ist das wahr?«
    »Ob es im Traum oder trotz seiner war, kann ich nicht sagen, aber es stimmt, Fürst Asfahan. Ich habe Euch und Eure Männer gesehen, bevor Ihr noch die Düne überquert hattet.«
    »Also bist du ein Seher.«
    Topra hielt diese Äußerung für eine Frage, aber er war sich nicht sicher, ob er sie richtig verstand. Der Fürst verlangte jedoch keine Antwort, sondern drängte ihn zum Mitkommen. Der Gefangene willigte notgedrungen ein.
    Der Teguar sprang mit der Geschmeidigkeit eines Löwen in den Sattel seines Rappen und lenkte ihn in Richtung Nomadenlager. Topra trottete nebenher.
    Das Zelt des Fürsten hatte fürwahr die Ausmaße eines Palastes. Es verfügte über mehrere untereinander durch bunte Stoffwände abgegrenzte Bereiche. Leise Stimmen erfüllten den vom Wind durchfächerten Traum aus Tuch, ihre Besitzer waren aber nicht zu sehen. Den Boden bedeckten mehrere Lagen Teppiche. Hier und dort standen duftende Wasserschalen, in denen Rosenblätter schwammen. Asfahan lud Topra ein, sich in einer Kissenlandschaft niederzulassen. Er klatschte in die Hände und eine verschleierte Frau erschien.
    »Darf ich dir Tee anbieten?«, fragte der Fürst.
    »Nur einen Schluck Wasser, bitte.«
    Die Frau verschwand und kehrte nach erstaunlich kurzer Zeit mit einem messingfarbenen runden Tablett zurück, auf dem zwei Kristallgläser und eine Karaffe mit Wasser standen. Nachdem Topra sein Glas in einem Zug ausgetrunken hatte, kam Asfahan zur Sache.
    »Jemina ist verschwunden.« Die schwarzen Augen des Fürsten verrieten tiefste Verzweiflung. Als trügen sie am Anblick des jungen Mannes zu schwer, sanken sie auf die Kissen nieder.
    Topra räusperte sich. »Verzeiht die Frage, Fürst Asfahan, aber wer ist Jemina?«
    Der Teguar sah wieder auf. »Ich dachte, du bist ein Seher.«
    Topra nahm schnell einen Schluck Wasser aus dem inzwischen wieder aufgefüllten Glas. In der Nacht, als ihn der Walhai verschluckt hatte, schien in ihm eine Macht erwacht zu sein, die ihn zunehmend beunruhigte. Während der Reise mit der Karawane waren unerklärliche Dinge geschehen. Einmal hatte er ein Antilopenskelett am Wegrand entdeckt und während er noch darüber nachdachte, woran das Tier gestorben sein könnte, schien es aus dem Todesschlaf wiederzuerwachen: Fleisch, Sehnen und Fell umschlossen das ausgebleichte Gebein und plötzlich stürmte es in panischer Angst davon, verfolgt von einem Löwen, der es, nachdem es einige Haken geschlagen hatte, mit einem Prankenhieb niederwarf und ihm das Genick brach.
    Topra hatte das Gesehene zunächst für die Folge eines Sonnenstichs gehalten. Aber er trug wie jeder in der Karawane einen Turban und es ging ihm körperlich – abgesehen von ein paar Blasen an den Händen – hervorragend. Auch die Annahme, es handele sich um Fata Morganen, konnte bestenfalls einen Teil der Visionen erklären, derer es viele gab. Meist tauchten die im Strom der Zeit davongetriebenen Wirklichkeiten völlig überraschend vor seinen Augen auf. Sogar Ereignisse, die in ferner Vergangenheit lagen, wurden ihm auf diese Weise sichtbar; einmal hatte er für Sekunden ein verfallenes Haus wieder in seiner ursprünglichen Pracht und voller Leben gesehen. Zeit und Raum erschienen Topra wie ein in Falten vor ihm hingeworfenes Tuch, das er mit seinen Blicken wie mit einer Nadel nach allen Seiten zu durchstoßen vermochte. Fürst Asfahans Vermutung lag also näher an der Wahrheit, als dem jungen »Seher« lieb

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