Die unsichtbare Pyramide
Hände. »Ich danke Euch, Kitta. Mir ist klar, was für ein Risiko Ihr für mich auf Euch nehmt. Sollte man dahinter kommen, was Ihr getan habt, wird man es nur schwer verstehen. Möglicherweise behaupten sie sogar, Ihr hättet einem Dieb geholfen Das Buch der Balance zu stehlen.«
»Ich mache mir mehr Sorgen um Euch als um mich, ehrenwerter Empfänger. Ihr seid von nun an ganz auf Euch selbst gestellt. Außerdem ist Euer Opfer größer als das meine.«
»Wie meint Ihr das?«
»Verzeiht meine Offenheit, aber Eure Gefühle für Dwina sind mir nicht entgangen. Es muss arg für Euch sein, sie so ganz ohne Abschied zurückzulassen.«
Trevir ließ sich auf ein Knie nieder und umarmte Kitta. Er hoffte die Tränen zurückhalten zu können, wenn er nicht in ihre großen grünen Augen blicken musste. Seine Stimme bebte trotzdem, als er sagte: »Ja, du hast Recht. Ich liebe sie. Der Brief, den du ihr geben wirst, vermag nur unvollkommen auszudrücken, was ich für sie empfinde. Ich würde es Dwina nicht einmal übel nehmen, wenn sie von hier weggeht, um mich nie wieder zu sehen. Aber ich verspreche dir, meine treue kleine Kitta, nur der Tod kann mich davon abhalten, zurückzukehren, wenn die Stunde dafür gekommen ist.«
Als Trevir sich flussabwärts treiben ließ, dachte er nicht darüber nach, wie lange er als Eremit im Kentish Weald würde leben müssen. Zunächst wollte er nur unbemerkt aus der Verbotenen Stadt herauskommen. In seinem Schoß lag Abacucks Buch und ein von Kitta zusammengeschnürtes Bündel, dessen Inhalt er noch nicht untersucht hatte. Wenn er das kleine Ruder mal links, mal rechts eintauchte, dann schwankte der winzige Kahn und nahm immer mehr Wasser auf. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das für die zwergenhaften Badda entworfene Gefährt untergehen würde. Bald fror Trevir und bibberte am ganzen Leib, weil seine Füße bis über die Knöchel im Wasser standen. Um nicht ganz unterzugehen, musste er den Fluss früher als beabsichtigt verlassen. Anschließend zog er die ganze Nacht hindurch in Richtung Osten, bis Londinor endlich hinter ihm lag. Von dem Schwarzen Heer hatte er nichts mehr gesehen und gehört. Die Reichweite von Wulfs Findigkeit war also begrenzt. Zum Glück!
In den nächsten Wochen und Monaten meisterte das junge Oberhaupt des Dreierbunds das Einsiedlerleben im Wald mit wechselhaftem Erfolg. Dabei leistete ihm Kittas Bündel wertvolle Dienste. Es enthielt nicht nur einen Dolch, sondern auch manch andere nützliche Überlebensutensilien. Nach wenigen Tagen stieß Trevir auf eine Höhle, die er fortan mit einer Schar von Fledermäusen teilte: Er nistete sich nahe dem Ausgang ein, die Flattertiere weiter hinten. Aus seiner Zeit beim Bader Clutarigas kannte er die kleinen Insektenfresser nur als Rohstofflieferanten für allerlei merkwürdige Wundermittel und musste nun staunend feststellen, um was für faszinierende Geschöpfe es sich bei ihnen handelte – wenn man sie am Leben ließ.
Eines Nachts fuhr er von seinem Moosballenlager auf, weil ihn ein Geräusch geweckt hatte. Im Schimmer seines Baddaumhangs fand er einen der großohrigen Flieger am Boden. Der Winzling hatte sich einen Flügel gebrochen und fiepte jämmerlich. Vielleicht hoffte Trevir, etwas von dem wieder gutmachen zu können, was er den Artgenossen des kleinen Verunglückten früher angetan hatte, möglicherweise trieb ihn auch nur das Mitleid mit einer hilflosen Kreatur, zumindest hob er das zitternde und mit nadelfeinen Zähnen nach ihm schnappende Pelzbündelchen auf und nahm sich seiner an. Während er ihm das Knöchelchen schiente, taufte er seinen Patienten auf den Namen Orrik. Ob es sich tatsächlich um ein Männchen handelte, wusste er nicht.
Nachdem Orrik geheilt war, blieb er im vorderen Teil der Höhle. Selbst von Trevirs Lagerfeuer ließ er sich nicht vertreiben – nur wenn der Rauch direkt in seine Richtung zog, wechselte er zu einer anderen Stelle unter der Decke, um sich dort kopfunter aufzuhängen. Ja, er wurde so zutraulich, dass er oft irgendwo auf dem Körper des Menschen landete und sich – scheinbar mit größter Wonne – durch die Gegend tragen ließ. Trevir brachte seinem neuen Freund sogar einige Kunststücke bei. Das wohl erstaunlichste war der »Lotsentrick«: Orrik kauerte sich dicht neben seines Herrn Ohr auf die Schulter und gab leise, aber deutlich unterscheidbare Laute von sich, die es dem Menschen ermöglichten, sich in völliger Dunkelheit zu bewegen. Im Laufe vieler Wochen
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