Die unsichtbare Pyramide
Buch?«
»Ich weiß es nicht. Er hat schon viel Wissen über das Triversum erworben. Vielleicht kann ich die Situation besser abschätzen, wenn ich Das Buch der Balance gelesen habe.«
Dieser Tätigkeit widmeten sich Trevir und seine Gefährtin in den folgenden Tagen. Dwina war es seit Kindertagen gewohnt, ihre Nase in dicke Wälzer zu stecken. Während sie der Forscherdrang beflügelte, trieb Trevir vor allem das unterschwellige Gefühl nahenden Unheils. Mit Kittas Hilfe und ohne Dwina etwas davon zu verraten, traf er Vorsorge für den Moment, von dem er hoffte, dass er nie eintreffen möge. Er konnte nicht vergessen, wie schnell Wulf ihn in der Britannischen Bibliothek gefunden hatte. Womöglich waren die Badda in großer Gefahr, weil sie dem jungen Oberhaupt des Dreierbunds Unterschlupf gewährten.
Zu dieser Befürchtung gesellte sich die Sorge um Dwina. Wenn Trevir sich mit ihr über die Aufzeichnungen Abacucks beugte, schweifte sein Blick gelegentlich ab. Er betrachtete ihre schmalen Hände, ihr blondes Haar – sie hatte sich ein süßes Zöpflein geflochten, das seitlich vom Kopf herabhing –, er atmete ihren Duft und manchmal, wenn sie eine Passage aus dem Buch vorlas und ihn unvermittelt ansah, dann verstummte sie jäh und er hatte wie kürzlich am Portal der Rotunde das Gefühl, in ihren blauen Augen zu versinken. In solchen Momenten schien sich die Zeit aufzulösen und meist senkten sie gleichzeitig verlegen den Blick, vertieften sich wieder in ihre Lektüre und taten so, als wäre nichts geschehen.
Mit jeder Stunde, die er in Dwinas Gegenwart verbrachte, wuchs Trevirs Sorge um sie und damit festigte sich auch sein Entschluss, sie niemals wieder in Mologs Hände fallen zu lassen. Auch deshalb gönnte er sich und ihr nur selten eine Pause, etwa wenn Kitta ihnen eine Erfrischung oder – wie am zweiten Tag – eigens für die beiden angefertigte Baddagewänder brachte. Überdies speisten sie regelmäßig mit Ceobba und seinen Ratsbrüdern, um ihnen vom Fortschritt der Studien zu berichten.
Man hätte Abacucks Aufzeichnungen sicher auch in kürzerer Zeit durchlesen können, aber der Gründer des Dreierbunds benutzte altertümliche, fast fremd klingende Formulierungen, die schwer zu verstehen waren. Seine winzige Handschrift machte dieses Unterfangen nicht eben leichter – sie erinnerte entfernt an die Fährte eines Insekts, das zuvor in ein Tintenfass gefallen war. Außerdem bediente er sich zahlreicher wissenschaftlicher Ausdrücke, die nicht einmal die kluge Dwina kannte. Den beiden Lesern gelang es nur bruchstückhaft, sich den Inhalt des Buches zu erschließen. In einem umfangreichen Kapitel erging sich der Verfasser in fast epischer Breite über die »Wellenfunktionen des Triversums« und demonstrierte hiernach anhand von Beispielrechnungen, wie sich die Abfolge der Annäherungen vorherbestimmen ließ. Das Buch der Balance bestätigte und erweiterte Trevirs Wissen aus den beiden in Zennor Quoit erbeuteten Manuskripten. Nachdem die vierte Welle seines Lebens gerade erst vorüber war, konnte er nun exakt das Kommen der beiden nächsten vorherbestimmen.
Sehr eindringlich beschrieb Abacuck auch die Ereignisse vor, während und nach der großen Katastrophe, die fast zum Untergang von Trimundus geführt hatte. Man habe die Existenz von Paralleluniversen entdeckt und wollte eine technische Möglichkeit schaffen, diese mithilfe eines künstlichen »Wurmloches« zu besuchen. Im ganzen römischen Imperium sowie in einigen verbündeten Staaten rund um den Globus wurden große Energietransformer errichtet und miteinander gekoppelt. Die gewaltigste Anlage stand in London, von wo aus auch die Koordination des Experiments erfolgte. Er, Abacuck, kannte als Hüter des Gleichgewichts besser als jeder andere die alten Überlieferungen, die von der Spaltung der Welt berichteten, aber niemand von Einfluss wollte auf die Warnungen eines einfachen Bibliothekars hören. Dabei kannte doch jedes Kind die Bedeutung der Buchstaben A. S. hinter einer Jahreszahl – Anno Scissuri, im »Jahr der Spaltung«. Die Entstehung des Triversums hatte für die Menschen jedoch längst keine Bedeutung mehr, war nur noch eine Legende.
So kam der Tag X und ganz Trimundus blickte gespannt nach London. Zuletzt wurden die Sekunden rückwärts gezählt. Als sich über dem Energietransformer ein gigantischer blauer Lichtbogen bildete, jubelten die Menschen vor Begeisterung. Doch schnell nahm die Katastrophe ihren Lauf. Am helllichten Tag
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