Die unsichtbare Pyramide
brachten die beiden es darin zu unglaublicher Perfektion.
Natürlich konnte Orrik die Gesellschaft Dwinas nicht ersetzen. Trevir dachte täglich an das Mädchen und nicht selten träumte er auch von ihr. Zumindest verschaffte es ihm ein wenig Erleichterung, wenn er Orrik von seinem »Lämmchen« erzählte – in Dwinas Gegenwart hatte er nie gewagt, sie so zu nennen. Die Fledermaus lauschte geduldig, wenn ihr von dem blonden langen Haar, den strahlend blauen Augen, den roten Lippen, der samtigen Stimme, dem fröhlichen Lachen, den sanften Händen, dem scharfen Verstand und noch etlichen anderen Vorzügen des Mädchens berichtet wurde.
Obwohl Trevirs Leben schon immer einfach gewesen war, reduzierte er seine Bedürfnisse nun auf ein Minimum. Was er für unnötig erachtete, tat er auch nicht. Dazu gehörte auch das Rasieren. Nach einigen Wochen hatte er einen überraschend dichten, schwarzen Bart. Um die Nahrungsbeschaffung konnte er sich nicht drücken, aber sie bereitete ihm auch keine größeren Probleme. Auf seinen »Pilgerreisen« hatte er sich einschlägige Erfahrungen im Jagen, Fischen und Sammeln angeeignet. Nur der schneereiche Winter, den Orrik größtenteils schlafend verbrachte, war hart. Die Bäume verloren ihre Blätter, was Trevir seiner Deckung beraubte und jeden Aufenthalt im Freien zu einem riskanten Unterfangen machte. Das Eis auf dem Fluss Thames war bald zu dick, um es zum Angeln aufzuhacken. Und die sich ständig erneuernde weiße Decke über dem hart gefrorenen Boden verschluckte nicht nur die Geräusche, sondern auch die Spuren möglicher Beutetiere. Manchmal plünderte Trevir vor Hunger die Vorräte von Eichhörnchen, wozu er seine Findergabe gebrauchte. Danach kam er oft tagelang nicht zur Ruhe, weil er fürchtete von Wulf entdeckt worden zu sein. Aber bis auf zwei Ausnahmen – Kundschaftertrupps des Schwarzen Heeres zogen in Sichtweite seiner Höhle vorüber – blieb es ruhig im Wald östlich der Verbotenen Stadt.
Wenn Trevir nicht gerade jagte, aß, schlief oder Orrik an seinen tief schürfenden Gedanken teilhaben ließ, dann studierte er Das Buch der Balance. Irgendwann im Winter kannte er es auswendig. Damit ist nicht gemeint, dass er es auch verstand. Gelegentlich kam er sich zwar so vor, als würde er wie sein neuer Lehrmeister denken, ja sich allmählich gar in Abacuck verwandeln, aber dann wieder fühlte er sich klein und elend, unfähig auch nur zu erahnen, was der Gründer des Dreierbunds in seinen Aufzeichnungen mitteilen wollte. Eines war klar: Molog würde niemals jenes riesige, weltumspannende Netz von Energietransformern schaffen können, um das Triversum zusammenzuketten. Doch da gab es einen Merksatz in Abacucks Buch, der Trevir nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.
Wer den Schwingungsknoten kontrolliert, der beherrscht das ganze System; wer ihn auflöst, entfesselt es.
Nur allzu gut entsann er sich jenes Gesprächs mit Aluuin, kurz bevor sein Mentor ermordet worden war: Es bedarf nur eines winzigen Angelpunktes, um einen riesigen Körper in der Balance zu halten, Trevir. Zwischen den beiden Aussagen des Gründers und des letzten Oberhauptes des Dreierbunds gab es eine Gemeinsamkeit. Oder war es ein Gegensatz? Trevir zerbrach sich den Kopf darüber, aber ohne die zusätzlichen Bücher, die unter tausenden anderer in der Rotunde des Wissens versteckt waren, würde er wohl nie dahinter kommen.
Er musste einen Weg finden, an diese ergänzenden Quellen zu gelangen. Nur welchen? Vermutlich würde Molog selbst nach den Büchern fahnden und ganz sicher stand die Britannische Bibliothek noch immer unter seiner strengen Bewachung. Wie, so fragte sich Trevir, sollte er den Kordon aus schwer bewaffneten Posten durchdringen und auch noch mit nicht weniger als zwei Dutzend Büchern wieder entkommen? Wochenlang grübelte er über das Problem nach. Oft unternahm er auch ausgedehnte Märsche durch den Wald, lief weit nach Osten, um seine Kräfte fern von Wulfs Wahrnehmung zu erproben. Trevir konnte Gegenstände versetzen, Bäume entwurzeln, Verborgenes zum Vorschein bringen, aber was er am dringendsten für seine Aufgabe gebraucht hätte, das gelang ihm nicht.
Es war noch nicht der richtige Zeitpunkt, machte er sich klar, als der Frühling den Schnee zum Schmelzen brachte. Er stand vor seiner Höhle und lauschte der wieder erwachenden Natur, dem Gezwitscher der Vögel, dem Rauschen des Windes in den grünen Trieben der Bäume.
Orrik hatte den Winterschlaf frühzeitig abgebrochen,
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