Die unsichtbare Pyramide
die Kräfte des Multiversums lenken, aber irgendwie muss er sich verrechnet haben. Die Überlieferungen der Unsichtbaren Pyramide sind in manchen Passagen ziemlich mehrdeutig. Als ihm sein Irrtum bewusst wurde, war ich, der erhoffte Wunderknabe, mit einem Mal nur noch Ausschuss für ihn.«
Francisco zuckte zusammen, als er das Wort »Ausschuss« hörte. Er glaubte die Bitternis herauszuhören, die Vicente angesichts dieses Umstandes empfand. Wie musste sich ein Kind fühlen, das sich als »Ausschuss« betrachtete? Plötzlich tat der verschmähte Sohn dem Klosterschüler Leid. Deutlich sanfter erwiderte Francisco: »Bedauerst du den Tod deines Vaters?«
Vicente wich seinem Blick aus. »Für meine Eltern war ich nur Mittel zum Zweck. Mutter brauchte Geld und Vater ein Wunderkind. Trotzdem werde ich jetzt sein Lebenswerk mit deiner Hilfe vollenden!«
Francisco lief ein Schauer über den Rücken, weil er in Vicentes Gesicht und in dem irren Funkeln seiner Augen eine Besessenheit zu bemerken glaubte, die ihn erschreckte. Andererseits empfand er Mitleid mit diesem Mann, der förmlich danach lechzte, sein verkümmertes Selbstwertgefühl zu festigen. War es zu viel verlangt, ihn dabei zu unterstützen, bevor sie sich am nächsten Morgen trennten? Wohl nicht, beschied Francisco, zumal er die Worte seines Idols, des Reporters David Pratt, nicht vergessen konnte: Reisen Sie nach Kairo, denn das ist es, was Sie im tiefsten Herzen wollen, weil Sie dort nach einer Antwort suchen. Die dazu passende Frage kennen nur Sie selbst. Ja, auf eine fast unheimliche Weise hatte der Journalist auf dem Grund von Davids Seele die Wahrheit gefunden, über die sich Francisco bis dahin selbst noch nicht klar geworden war. Nicht die Suche nach dem Abenteuer, auch nicht der Entdeckergeist des Hobbyägyptologen trieb ihn immer weiter voran, es waren tatsächlich die Sinnfragen, die irgendwann jeden Menschen bewegten: Wer bin ich? Wozu bin ich hier? Und wohin führt mein Weg? Es musste einen Grund geben, warum ausgerechnet er über so außerordentliche Gaben verfügte. Auch um diesen herauszufinden, durfte er nicht tatenlos zusehen, wie seine sechste Lebenswelle vorüberging. Er beschloss, Vicentes ausweichende Antwort vorläufig auf sich beruhen zu lassen. Doch zumindest einen Warnschuss vor den Bug wollte er ihm verpassen.
»Ich werde bei nächster Gelegenheit nach Spanien zurückkehren.«
»Das ist mir klar.« Vicente getraute sich schon wieder ein verstohlenes Grinsen. »Vielleicht wirst du ja demnächst mein Schwiegersohn. Meinen Segen hättest du.«
»Ich denke nicht, dass Clara darauf irgendeinen Wert legt. Im Übrigen bestimmen wir beide von nun an selbst über unser Leben. Deine Manipulationen habe ich jedenfalls gründlich satt.«
Erneut wechselte der Ausdruck im Gesicht des Archäologen und wurde starr wie eine Maske. »Heißt das, du kommst heute Nacht nicht mit mir in die Kammer des Wissens?«
»Doch, ich gehe mit.«
Vicente atmete erleichtert auf. »Gut.«
»Aber danach trennen sich unsere Wege. Ich meine es ernst. Es ist das letzte Mal!«
Ein kleines Lächeln umspielte die Lippen des Archäologen. Er nickte zwei-, dreimal. »Einverstanden.«
Das Tageslicht schwand schnell. Mit dem Stempel des Kulturministeriums überwanden Francisco und Vicente problemlos sämtliche Kontrollen. Dem Wachpersonal waren ihre Gesichter ohnehin längst vertraut. Die neueste Ausgrabungskampagne an der Sphinx hatte auf dem Areal der Nekropole für eine Menge Unruhe gesorgt und in den vergangenen Stunden waren die Aktivitäten noch einmal auf Hochtouren gelaufen, weil die verrückten Europäer die Granittür zur gerade entdeckten Kammer nicht schnell genug aufbekommen konnten. Jetzt rückten sie wieder an, die Senores Alvarez und Serafin.
In dem neu geschaffenen Zugang an der Schwanzwurzel der Sphinx hatte Helwan inzwischen eine Holztür anbringen lassen. Vicente kramte in seiner schweren Stofftasche herum. Sie beherberge hauptsächlich Lampen, hatte er gesagt, neben ein paar anderen unverzichtbaren Utensilien für die feierliche Handlung zur Einigung der Welten. Während er in der Tasche nach dem Schlüssel zum Vorhängeschloss suchte, fragte sich Francisco, was das für eine merkwürdige Zeremonie sein mochte, die Vicente da plante. Dem Klosterschüler war nicht ganz wohl bei dem Gedanken an irgendwelche altägyptischen Rituale. Wie sollte damit die entzweite Menschheit wieder zusammenfinden? Nun, immerhin war nicht von der Hand zu weisen, dass
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