Die unsichtbare Pyramide
ihr liegen.
Fahrig steckte Francisco die erste hinter die zweite Fotografie und diese ließ ihn erschauern. Es handelte sich um ein Brustbild, das einen kirchlichen Würdenträger im Ornat zeigte. Er ging vermutlich bereits auf die sechzig zu. Ansonsten sah er aus wie Vicente.
Franciscos Hände zitterten immer heftiger. Obwohl er bereits ahnte, was er gleich lesen würde, wendete er das Foto um.
Pedro Alvarez – 24.12.1974
»Dieselbe Handschrift«, murmelte er.
Vicente war dem ermordeten Provinzialminister der Franziskaner wie aus dem Gesicht geschnitten. Der Geistliche musste sein Vater sein. Francisco dagegen hatte mit ihm nicht die geringste Ähnlichkeit. Auch mit Estefania Morales nicht.
»Warum hast du mich belogen?«, flüsterte er, als könne sein Bruder ihn hören.
Was hatte Vicente im Kloster zu ihm gesagt? Ich schenke dir die Münze, damit du nie vergisst, wie man sich irren kann. Was für ein Hohn! Francisco schüttelte fassungslos den Kopf und gab sich selbst die Antwort auf seine Frage. »Weil du gar nicht mein Bruder bist.«
Rasch entfaltete er Claras Brief und begann zu lesen.
Lieber Francisco!
Als ich deine letzten Zeilen las, war ich in großer Sorge. Ich habe viele Male auf deine Briefe geantwortet, aber nie scheinst du die meinen erhalten zu haben. Ich fürchte fast, Vicente, den du deinen »teuren Bruder« nennst, hat alles abgefangen. Mein Erzeuger scheint ein noch größerer Schuft zu sein, als ich bisher dachte. Doch ehe ich dir erzähle, was ich über ihn in Erfahrung bringen konnte, möchte ich dir von Bruder Pedro berichten, nach dem du immer wieder fragst.
Der Guardian von La Rábida ist wieder in Amt und Würden. Die Polizei hat den Verdacht gegen ihn fallen lassen. Ich habe Pedro besucht und mit ihm über dich und deine Flucht gesprochen. Er hat Verständnis für deine Situation geäußert und ist dir nicht böse. Du könnest jederzeit ins Kloster zurückkehren, wenn du willst. Außerdem hat er mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, wie er wieder auf freien Fuß gelangt ist. Er offenbarte der Polizei einige sehr vertrauliche Einzelheiten aus dem Leben Estefania Morales’, meiner Großmutter, die nicht deine Mutter ist.
Und damit komme ich zu den für dich vielleicht beängstigenden und zugleich beglückenden Neuigkeiten. Vicente ist…
Ein heftiges Klopfen an der Tür ließ Francisco hochschrecken. »Ja?«
»Ich bin’s, Vicente«, meldete sich gedämpft die Stimme des falschen Bruders.
»Verdammt!«, zischte Francisco aus Ärger über die Unterbrechung. Sein Kopf fuhr hoch. Zwei, drei aufgeregte Herzschläge lang stand er einfach nur wie festgefroren da. Liebt sie mich immer noch? Die Vorstellung war fast zu wunderbar. Aber ja, so musste es sein. Sonst hätte sie ihm nicht »viele Male« geantwortet…
»Francisco? Was ist denn?«, drängelte es hinter der Tür.
Mit einem wehmütigen Blick löste er sich endgültig von dem Brief. Er würde den Rest später lesen. Rasch faltete er den Bogen, stopfte ihn zusammen mit den Bildern ins Kuvert und ließ dieses unter seinem T-Shirt verschwinden. Inzwischen hatte er die Tür erreicht und riss sie auf.
»Alles in Ordnung?«, fragte Vicente, schien aber nicht ernsthaft mit einer Antwort zu rechnen. Er rückte den Riemen einer schwarzen Stofftasche auf der Schulter zurecht und machte Anstalten, in Richtung Lift zu gehen.
Einen Moment lang wusste Francisco nicht, wie er reagieren sollte. Er hatte keine Lust, sich vor diesem Schwindler der Geheimniskrämerei bezichtigen zu lassen, aber andererseits konnte er Vicentes Verhalten auch nicht einfach so hinnehmen.
»Kommst du?«, rief der über die Schulter. Er war schon auf halbem Weg zum Fahrstuhl.
»Nein!«, erwiderte Francisco fest.
Vicente fuhr herum. »Was ist denn los mit dir?« Langsam kehrte er zurück.
»Könnte es vielleicht sein, dass du gar nicht mein Bruder bist?«
Vicente wurde kalkweiß. »Wer behauptet das?«
»Deine Tochter.«
»Clara?«
»Hast du noch andere?«
Vicente drängelte sich an Francisco vorbei ins Zimmer und schloss die Tür. »Hat sie dir wieder geschrieben?«
»Dann gibst du es also endlich zu.«
»Was?«
»Dass Clara mir schon viele Briefe geschickt, du sie abgefangen und fein säuberlich in deinem Intimsphärentresor abgelegt hast.«
»Wo?«
»In dem Aluminiumkoffer!«
»Du brauchst mich nicht anzuschreien. Ich wollte doch nur, dass du dich auf diese Sache hier konzentrieren kannst, bevor du mit wehenden Schößen
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