Die unsichtbare Pyramide
er Gaben besaß, die das übliche Verständnis vom Möglichen und Unmöglichen auf den Kopf stellten. Warum sollte also nicht auch in dieser Nacht etwas Unvorstellbares geschehen? Wenn ihm die Sache zu unheimlich wurde, konnte er immer noch einen Rückzieher machen.
Endlich öffnete Vicente die Tür, an deren Innenseite mehrere Schutzhelme hingen. Zwei davon wurden von Nägeln genommen, aufgesetzt, Handlampen wurden eingeschaltet und der Abstieg in die Tiefe begann. Auf Gasmasken wurde diesmal verzichtet, weil die Tunnel einschließlich der Kammer inzwischen gut durchlüftet und zudem desinfiziert worden waren. In den Gängen folgte das Zweiergespann der Nylonschnur, die Doktor Helwan beim ersten Besuch als Orientierungshilfe zurückgelassen hatte; der Ältere ging voran, der Jüngere hinterher. In unregelmäßigen Abständen drehte sich Vicente nach seinem Hintermann um. Für Francisco war das Gefühl der Beklemmung diesmal nicht so heftig wie noch tags zuvor. Das mochte an seiner Unruhe liegen, die wie ein unsichtbarer Quirl in ihm rumorte und alles in Bewegung hielt. Zusätzlich sorgte seine gespannte Erwartung für Ablenkung – die Öffnung des Granitportals am Nachmittag hatte er ja nicht miterlebt und würde die Kammer des Wissens daher nun zum ersten Mal betreten dürfen.
Bald erreichten die beiden die Stelle mit der eingestürzten Decke. Die Trümmer waren in Anbetracht der knappen Zeit nur notdürftig zur Seite geräumt worden. Man musste nicht mehr über Schutthügel kriechen, sich aber immer noch vorsehen.
»Die geborstene Granitverkleidung ist ziemlich scharfkantig. Pass auf, dass du dir nicht die Hose aufreißt«, witzelte Vicente, während er sich anschickte, die enge Stelle in flottem Tempo zu passieren. Dabei fiel sein Blick auf Francisco und wurde zu einem Starren. »Du glühst ja! – Au!«
Francisco hörte zunächst ein Ratschen, sah Vicente stolpern, verfolgte dessen nicht ganz unkomischen Balanceakt zwischen Schacht- und Geröllwand, der mit dem Hängenbleiben der Stofftasche an einem Trümmervorsprung begann, im Zerreißen derselben einen vorläufigen Höhepunkt fand und mit dem harten Aufprall des Archäologen spektakulär endete. Der Inhalt der Tasche verteilte sich über den Boden. Vicente fluchte.
»Hast du dir wehgetan?«, fragte Francisco und hielt sich beiläufig die Hand vors Gesicht. Es war eher ein schwacher, kaum wahrnehmbarer Schimmer, der seinen Partner aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.
»Geht schon. Wir sollten uns beeilen«, stöhnte der Gefragte, raffte eilig seine Utensilien zusammen und stopfte sie in die lädierte Tasche zurück. Im Licht seiner Lampe sah Francisco ein dünnes, in schwarzes Leder gebundenes Buch, weitere Leuchten, eine kleine Holzkiste, etwas Verchromtes, das metallisch klimperte – und den roten Fleck auf der Schulter des Gestürzten. Vicentes Hemd hatte sich an dem Vorsprung verfangen und war beim Stürzen zerrissen worden.
»Bist du verletzt?«, fragte Francisco und wollte den anderen am Arm zu sich herumdrehen, um die blutig aussehende Stelle genauer untersuchen zu können, aber dann stutzte er…
Vicente entwand sich seinem Griff. Vorsichtig hob er mit beiden Händen die Tasche auf, als wäre sie ein verletztes Tier, klemmte sie sich unter den Arm und stürmte den Gang hinab. Ohne sich noch einmal umzudrehen, rief er: »Darum können wir uns später kümmern.«
Francisco eilte hinterher. Mit jedem Schritt wurde ihm klarer, was er da eben gesehen hatte. Die blutende Schürfwunde war erheblich kleiner als der sie umgebende feuerrote Fleck. Er hob die Hand, als könne er Vicente damit zum Anhalten bewegen. »Du hast ein Muttermal auf der Schulter.«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Eine große sogar.«
Vicente lief weiter, immer an der Nylonschnur entlang. »Ach! Du meinst, weil auf deinem Rücken auch so ein Ding prangt?«
Francisco verharrte mitten im Schritt, starrte mit offenem Mund dem weitereilenden Vordermann nach, setzte sich aber sogleich wieder in Bewegung. »Woher weißt du von meinem Feuermal?«
»Als du in Japan fast abgesoffen wärst, hast du unter deiner Tarierweste ein weißes T-Shirt getragen. Aratake und ich haben dir die Weste ausgezogen, während du wie ein Weltmeister gehustet hast. Dein Hemd war klitschnass. Durchsichtig! Da habe ich das Mal gesehen.« Vicente setzte seinen Marsch fort.
Francisco stolperte hinterher. »Aber deins sieht irgendwie anders aus.«
»Klar doch. Weil ich eben kein richtiger Lenker
Weitere Kostenlose Bücher