Die unsichtbare Pyramide
Fürwahr, diesen Ort mit eigenen Augen zu sehen, ließ sich kaum mit etwas anderem vergleichen. Staunend schritt er durch die Kammer. Vor allem die Hieroglyphen faszinierten ihn. Wie jemand, der an einem Büffet hier und dort nascht, las er einige Schriftzeichen, die von Erzen mit »magischer Wirkung« berichteten, dann wieder eine Passage, die Anweisungen zum Aufbohren eines menschlichen Schädels enthielt. Auf den im Hintergrund klappernden und raschelnden Vicente achtete er nicht. Erst als sich dessen Stimme meldete, riss sich Francisco von der Lektüre der uralten Wissensschätze los.
»Habe ich’s dir nicht versprochen?«
»Was?« Francisco drehte sich zur Insel um, wo Vicente immer noch mit dem Rücken zu ihm über den Sarkophag gebeugt stand und in seiner Tasche kramte.
»Ich sagte: ›Begleite mich und du wirst Dinge sehen, bei denen dir die Augen übergehen.‹ War doch nicht untertrieben, oder?«
Francisco schüttelte ergriffen den Kopf. »Es ist… phantastisch!«
»Aber noch lange nicht so phantastisch wie das, was du gleich erleben wirst. Sieh selbst!« Bedächtig, die Hände wie zum Gebet vor der Brust verschränkt, drehte sich Vicente um.
Er trug eine Gasmaske.
Sich der überraschenden Wirkung seines Anblicks offenbar voll bewusst, nahm er langsam die Hände auseinander und hielt Francisco eine kleine Kugel aus durchsichtigem Glas entgegen. Der Behälter enthielt eine klare Flüssigkeit. Vicente deutete mit dem Kopf eine Bewegung an, als wolle er seinem erstaunten Partner einen Handkuss zupusten. Die Illusion war perfekt, als das an eine Weihnachtsbaumkugel erinnernde Ding unvermittelt anfing, durch die Luft zu schweben, erst langsam, dann schneller, ziemlich genau auf Francisco zu. Der war überrascht genug, um einfach nur reglos zuzusehen. Das Behältnis verfehlte nur knapp seinen Kopf und zersprang klirrend hinter ihm an der Wand. Seine Gedanken gerieten in Aufruhr. Was hatte das zu bedeuten? Die Kugel, ihr Schweben, die Atemschutzmaske…
Durch den Luftfilter drang ein kleines, böses Lachen. »Ich bin zwar kein so guter Wellenreiter wie du, aber ein bisschen surfen kann ich auch.«
Plötzlich spürte Francisco ein Beißen wie von Salmiakgeist in der Nase. Um ihn herum begann sich alles zu drehen. Er taumelte gegen die Wand, riss Halt suchend die Arme hoch, registrierte verwundert, wie seine Knie weich wurden und unter dem Gewicht seines Körpers nachgaben. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und er verlor die Besinnung.
Franciscos Bewusstsein kehrte ratenweise zurück, zuerst spürte er eine angenehme Wärme, die seinen Kopf umgab. Dann hörte er ein leises Klimpern – jemand zerrte an seinen Armen, dann an den Fußgelenken.
»So, das hält«, hörte er wie durch einen Vorhang jemanden sagen. Vicente? Jetzt schlug ihn dieser Jemand ins Gesicht und rief: »Komm, wach auf, Bruderherz. Du willst doch deine große Stunde nicht verschlafen.«
Francisco kämpfte gegen Brechreiz und Benommenheit. Seine Zunge schien kiloschwer zu sein, als er lallte: »W-was… was has’ ‘u ge’an?«
»Warst ein paar Minütchen narkotisiert. Ist leider nötig gewesen, weil ich nicht so vermessen bin, es mit deinen Kräften aufzunehmen. Eine angenehme Nebenwirkung des Betäubungsmittels ist übrigens die Konzentrationsschwäche, die du bemerken wirst, falls du versuchst mit mir dasselbe anzustellen, was ich gerade mit der Phiole getan habe.«
Endlich schlug Francisco die Augen auf. Am Rande seines Blickfeldes sah er verschwommen das Licht von Kerzen, die beiderseits seines Kopfes brannten – daher also die Wärme. Trotz oder vielleicht gerade wegen der Angst, die in ihm hochstieg, war überhaupt nicht daran zu denken, sich mental zu sammeln, geschweige denn auf die Kräfte des Multiversums einzuwirken. »W-was…?«
»Nicht überanstrengen, Bruderherz!« Über ihm erschien Vicentes Gesicht. Der Widerschein eines blauen Lichts ließ ihn kalt und krank aussehen. Seine Augen glänzten, als wäre nun vollends der Wahnsinn in ihnen eingezogen. Die Atemschutzmaske hatte der Archäologe wieder abgelegt. Dafür trug er nun ein Kopftuch wie ein altägyptischer Priester. Grinsend erklärte er: »Du fragst dich, warum ich dich mit den Handschellen an die Klammern gekettet habe, nicht wahr? Ganz einfach: Ich kenne doch deine Antipathie gegen heidnische Riten und wollte vermeiden, dass du mir wegläufst.«
»R-ri’en? W-was…?«
»Eins nach dem anderen«, fuhr Vicente seinem Opfer über den Mund. »Dein
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