Die unsichtbare Pyramide
hatte behauptet, am nächsten Morgen würde sie über einer neuen Welt aufgehen.
Francisco war seit dem Verlassen des unterirdischen Labyrinths ziemlich ernüchtert. Das Gefühl der Beklemmung steckte ihm noch in den Knochen. Vom Rausch der Entdeckereuphorie war nicht mehr viel zu spüren. Daher hatte er es auch nicht eilig gehabt, früher als nötig zur Kammer zurückzukehren. Der erfahrene Ausgräber Helwan spielte da in einer ganz anderen Liga. Routiniert hatte er nach der Rückkehr unter den Sternenhimmel zum Handy gegriffen und ein paar Anrufe getätigt. Noch in der Nacht waren Arbeitstrupps herbeigeeilt, die Frischluft mit einem keimtötenden Zusatz in das Labyrinth leiteten und sich an die Öffnung der Granittür machten. Nachdem dies gelungen war, hatte es sich Vicente nicht nehmen lassen, die Grabkammer als Erster zu betreten. Später berichtete er seinem Bruder begeistert davon. Die Vorhersagen bezüglich ihrer Ausgestaltung hätten sich hundertprozentig bestätigt, aber der Finder empfand trotzdem keine Befriedigung dabei.
Plötzlich klingelte das Telefon. Vermutlich Vicente, der zum Aufbruch mahnen wollte, dachte Francisco. Er lag mit dem Rücken auf seinem Doppelbett und hatte wer weiß wie lange die Decke angestarrt. Jetzt griff er lahm zum Hörer.
»Ja?«
Die Stimme einer Frau meldete sich. »Hier ist die Rezeption. Spreche ich mit Mr Serafin?«
Francisco schwang die Beine aus dem Bett. »Ja! Was gibt es?«
»Uns ist leider ein peinliches Missgeschick unterlaufen, Mr Serafin. In Ihren Gästedaten steht, Sie erwarten eine persönliche Nachricht. Der Portier von der Frühschicht hatte ihn gleich zur Seite gelegt, damit Sie ihn unverzüglich bekommen, aber dann waren Sie außer Haus und beim Schichtwechsel wurde er leider übersehen. Ich muss mich vielmals entschuldigen…«
»Was haben Sie übersehen?«
»Den Brief. Hatte ich das nicht erwähnt?«
»Nein, haben Sie nicht«, knurrte Francisco. »Wie lange haben Sie ihn denn ›übersehen‹?«
»Vier Tage.«
»Wie bitte!?«
»Kann der Page Ihnen den Brief gleich aufs Zimmer bringen?«
»Da fragen Sie noch? Bitte schicken Sie ihn so schnell wie möglich her.«
»Natürlich, Mr Serafin. Bitte entschuldigen Sie noch einmal das Versehen meiner Kollegen.« Die Rezeptionistin legte rasch auf.
Francisco erwartete den Hotelpagen vor der Tür seines Zimmers. Er hoffte, Claras Nachricht noch lesen zu können, bevor Vicente aufkreuzte. Es musste einfach der ersehnte Brief von Clara sein!
Der Lift bimmelte, ein hagerer Page trat heraus und schlenderte zum ungeduldig wartenden Gast. Francisco riss ihm den Brief vom Silbertablett.
»Danke.«
Der Page blieb wie angewurzelt stehen.
Francisco kramte in seiner Jeans, warf ihm einige Piaster aufs Tablett, ignorierte die unzufriedene Miene und verschwand wieder in seinem Zimmer.
Erst als die Tür hinter ihm geschlossen war, las er den Absender: C. Alvarez y Moguer. Ja! Der Brief stammte von Clara. Francisco hielt sich den Umschlag unter die Nase und atmete seinen Duft ein – er roch nach Papier und sonst nichts. Sodann eilte er zu seinem Koffer, holte ein Taschenmesser heraus und öffnete den Brief; ihn einfach aufzureißen wäre ihm wie ein Frevel erschienen. Aus dem Kuvert rutschten ein Bogen Papier und zwei Fotografien.
Neugierig betrachtete er die Bilder. Das erste zeigte eine elegante Frau Anfang fünfzig: schlank, braunes Haar, helle Augen, gut aussehend. Sie trug einen Strohhut, ein cremefarbenes Sommerkleid mit breitem roten Lackgürtel und dazu passende Handschuhe und Sandaletten. Lachend deutete sie mit dem Finger nach oben, wo ein großes Zifferblatt zu sehen war, das verriet, was in Sevilla die Stunde geschlagen hatte, sowie fünf kleinere, die Auskunft über andere Zeitzonen gaben. Die Dame stand nämlich vor dem holzumrahmten Schaufenster eines Uhrengeschäfts, dessen Auslagen Francisco selbst schon bewundert hatte. Er drehte das Foto um. Auf der Rückseite stand, von weiblicher Hand geschrieben, eine Notiz.
Estefania Morales – 14.9.1975
Franciscos Hand begann zu zittern.
»Mutter?«, hauchte er. Noch nie hatte er ein Bild von ihr gesehen. Aber… Das konnte doch unmöglich stimmen. Er war am 20. November 1975 geboren worden. Mitte September desselben Jahres hätte seine Mutter somit im siebten Monat schwanger sein müssen. Aber die Estefania Morales auf dem Foto hatte eine bewundernswerte Figur. Außerdem – ja, sie sah gut aus – aber das gebärfähige Alter dürfte längst hinter
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