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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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bin, kein ›Wellenreiter‹, wie du vorhin so schön sagtest. Bei dir sind alle Seiten des Dreiecks im Zentrum des Möbius-Bandes gleich lang, in vollkommener Harmonie. Du wurdest – anders als ich – zur rechten Zeit am rechten Ort geboren. Ich bin nur Ausschuss. Deshalb ist meine Pyramide windschief wie ein alter Schuppen und das feuerrote Möbius-Band drum herum kaum zu erkennen.«
    »Du nimmst dir das alles zu sehr zu Herzen, Vicente.«
    »Was du nicht sagst! Wenigstens hast du einen väterlichen Freund gehabt, der dich mit Liebe aufzog. Mein Vater hat nur eins mit mir im Sinn gehabt, und das war nichts Gutes.«
    »Was meinst du?«
    »Lass uns erst in die Kammer gehen. Dann verrate ich’s dir.«
    »Ich will es aber jetzt wissen, Vicente.«
    »Dein blauer Glanz wird stärker. Wir haben keine Zeit mehr für dieses sentimentale Gequatsche.« Der Archäologe stapfte unbeirrt voran.
    Bald erreichten sie den langen Tunnel, der direkt auf ihr Ziel zuführte. Im Lichtkegel der Handlampe tauchte ein rechteckiges schwarzes Loch auf: der inzwischen aufgebrochene Einlass zur Kammer des Wissens. Schon als Francisco den Zugang von weitem sah, begann sein Herz heftig zu schlagen. Unwillkürlich fühlte er sich wieder an jenen Tag erinnert, als er mit Vicente den Ring of Kerry abgefahren war. Beim Anblick der Skellig-Inseln hatte er Ähnliches empfunden. Nur nicht so intensiv wie jetzt.
    Mit jedem Schritt wurde das Gefühl stärker. Schon in Irland war ihm die Vorstellung an ein Déjà-vu-Erlebnis zuwider. Hier empfand er dieselbe Abneigung. Er konnte sich das Erinnern an Orte, die er persönlich nie besucht hatte, nur auf eine Art und Weise erklären: Es musste ein unsichtbares Band zwischen ihm und seinen Drillingsbrüdern geben, die er im Wasser der Blutquelle von Glastonbury gesehen hatte, wodurch er sich auf eine ihm nicht erklärbare Weise ihrer Erfahrungen entsann. Womöglich hatte der Altägyptisch sprechende Topra die Kammer des Wissens schon vor ihm betreten. Oder war er sogar in diesem Augenblick hier…?
    »Na, was sagst du?« Vicente hatte beim Eintritt in die jahrtausendealte Begräbnisstätte kaum mehr Ehrfurcht bewiesen als beim Betreten einer öffentlichen Bedürfnisanstalt.
    Francisco war unter dem Türsturz stehen geblieben. Er zog den Schutzhelm vom Kopf und wischte sich mit dem Unterarm Staub und Schweiß von der Stirn. Während sein Begleiter eilig an den Ecken der quadratischen Kammer Lampen aufstellte, ließ er den Blick durch den Raum schweifen. Mit jedem Einschalten einer weiteren Leuchtstoffröhre wurden mehr Einzelheiten, die er schon zuvor kraft seiner Gabe schemenhaft gesehen hatte, erkennbar: die Inschriften an den Wänden, der äußere Wandelgang, das Wasserbassin und die Insel mit dem schwarzen Basaltsarkophag. Ein wenig unwillig musterte er die Metallklammern am Deckel, jede hatte eine Öse, an der man einen Haken befestigen konnte.
    »Ihr habt den Sarg schon geöffnet?«, fragte Francisco erstaunt.
    »Nur einen Blick hineingeworfen«, antwortete Vicente, während er mit seiner Tasche durch das Bassin zur Insel watete.
    »Und?«
    Vicente stieg auf das steinerne Geviert, legte zunächst seinen Helm, anschließend die Ausrüstung und dann demonstrativ seine Hand auf den Deckel. »Imhotep muss gerade im Jenseits unterwegs sein.«
    Francisco war nicht besonders überrascht. »Wie bei Cheops: leere Särge, keine Mumien.«
    »In der Königskammer des Pharaos hat man allerdings einen offenen Sarkophag gefunden, der hier war versiegelt.«
    »Könnte sich um ein Scheingrab handeln.«
    »Oder Imhotep ist auferstanden und hat den Deckel wieder zugemacht.«
    »Fängst du schon wieder damit an!«
    »Kommt dir dieser Raum vielleicht irgendwie vertraut vor?«
    Francisco erschauerte. »Was soll das nun schon wieder heißen?«
    »Könnte doch sein, dass du Imhotep bist.«
    Er trat an den Beckenrand, deutete erbost mit dem Zeigefinger auf den Archäologen und zischte: »Noch eine solche Bemerkung und du kannst deine Zeremonie alleine abhalten.«
    Ein dünnes Lächeln stahl sich auf Vicentes Lippen. »Fragen darf man ja wohl noch, oder?« Als er von Francisco nur einen eisigen Blick erntete, breitete er die Arme aus und erklärte jovial: »Du bist hier an einem Ort, der Legende ist. Schau dich ein wenig um. Ich brauche noch einen Moment.« Er wandte sich ab und begann in seiner Tasche zu kramen, nahm das Buch heraus, die Schachtel…
    Francisco entspannte sich ein wenig und ließ seinen Blick umherschweifen.

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