Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
wird keine goldenen Jahre geben, für die ich jetzt schon vorsorgen müsste, und bei dem Gedanken daran, Geld für eine Pension zu sparen, die tausend Jahre lang dauern wird, explodiert mir der Schädel. Ich kann mir keine Gedanken mehr über die Zukunft machen, nun da sie unendlich lange dauern wird. Ich kann mir bloß über das Gedanken machen, was in diesem Moment direkt vor mir liegt. Wenn ich so darüber nachdenke, ist das durchaus befreiend. Wenn ich will, könnte ich als Barkeeper nach Dänemark gehen. Ich glaube zwar nicht, dass ich das möchte, aber es ist schön, die Möglichkeit zu haben.
Ich hatte meinen Kollegen im Büro nichts von der Deaktivierung erzählt, doch als ich gestern gerade mit den Recherchen für einen achtzigtausend Seiten langen Schriftsatz beschäftigt war, zog mich ein Kollege plötzlich zur Seite. Nun, es war nicht wirklich einer meiner Kollegen. Eher ein Kollege meines Vorgesetzten. Er war in der Hierarchie auf alle Fälle viel höher angesiedelt als ich. Er fragte mich, ob ich ein paar Minuten Zeit hätte. Es machte mir Angst, denn ich dachte sofort, dass ich wohl irgendetwas ausgefressen haben musste. Dann führte er mich in sein Büro.
»Kennen Sie sich im Scheidungsrecht aus?«
»Ein wenig.«
»Sie müssen sich einlesen. Ich weiß, dass Sie momentan in Arbeit versinken, aber ich werde ein Seminar zum Thema Scheidungsrecht organisieren und möchte, dass Sie daran teilnehmen.«
»Weshalb?«
»Weil sich alle scheiden lassen wollen. Jeder einzelne. Alle Banker und Hedgefonds-Typen in dieser Stadt versuchen gerade, aus ihren Ehen herauszukommen. Und wenn sie es nicht versuchen, dann versuchen es ihre Ehefrauen. Wir haben drei Mitarbeiter, die sich im Scheidungsrecht auskennen. Das reicht nicht. Wir müssen die Anzahl verdoppeln oder verdreifachen. Wir sprechen hier von Fällen, die sich eine Ewigkeit lang hinziehen könnten. Für die meisten Fälle gibt es noch nicht einmal die geeigneten Gesetze. Es handelt sich um einen riesigen, fetten Goldesel. Es ist genau das Richtige für Sie. Sie wollen doch nicht weiter im Erbrecht arbeiten. Das wird in zwei Jahrzehnten niemand mehr brauchen.«
»Mein Gott.«
Dann erzählte er mir eine Geschichte, die einer der Scheidungsanwälte aus irgendeiner anderen Kanzlei ihm erzählt hatte. Eines Tages tauchte so ein aufgeblasener Fettsack in der Kanzlei auf, donnerte an der Empfangsdame vorbei und krachte in das Büro des Anwalts.
»Ich will meine Ehe annullieren lassen«, brüllte der aufgeblasene Fettsack.
Der Anwalt war verwirrt. »Wie bitte?«
»Sie haben mich genau verstanden! Ich will meine Ehe annullieren lassen, und zwar so schnell wie möglich.«
»Sie können Ihre Ehe nicht annullieren lassen«, erklärte ihm der Anwalt. »Sie sind bereits seit zwanzig Jahren mit Ihrer Frau verheiratet.«
»Die Ehe wurde unter Vorspiegelung falscher Tatsachen geschlossen.«
»Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen?«
»Sie hat sich deaktivieren lassen, und ich ebenfalls. Dadurch haben sich die Voraussetzungen, von denen wir ursprünglich ausgegangen sind, vollkommen geändert.«
»Ja, aber vor zwanzig Jahren existierte das Heilmittel doch noch nicht. Um eine Vorspiegelung falscher Tatsachen geltend machen zu können, müsste das Heilmittel bereits existiert haben, als Sie Ihr Aufgebot bestellt haben. Und selbst dann weiß ich nicht, wie das funktionieren sollte.«
»Jetzt hören Sie mir mal zu, ich bin ein altmodischer Kerl. Ich glaube daran, dass man sich an den Schwur, den man vor dem Altar geleistet hat, auch halten sollte. Ich habe geschworen, mein ganzes Leben bei dieser Frau zu bleiben. Aber ich bin davon ausgegangen, dass es sich dabei um siebzig oder maximal achtzig Jahre handeln würde. Und nun soll ich die nächsten tausend Jahre mit ihr verbringen? Das ist doch Irrsinn!«
»Ich glaube, Sie sollten sich scheiden lassen.«
»Weshalb? Damit sie alles bekommt, was mir gehört? Diese Frau verbringt seit sechs Jahren jedes Wochenende mit ihrem Fitnesstrainer. Und dann schlafe ich fünfmal mit einer Verkaufsleiterin, und plötzlich bin ich das Arschloch? Das macht doch alles keinen Sinn. Nein, ich will die Ehe annullieren lassen. Wir hätten doch gar nicht geheiratet, wenn es das Heilmittel damals schon gegeben hätte.«
»Unter diesen Umständen kann ich keine Annullierung bewirken. Die Ehe wurde rechtsverbindlich geschlossen und bleibt für immer bestehen.«
»Aber niemand hat mir gesagt, dass ‚für immer‘ so lange dauern
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