Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
noch immer zerdrückt und unförmig aussah, nachdem er im Uterus stecken geblieben war. Ich sah mir seine Hände an. Sie waren schrumpelig, nachdem er all die Monate im Fruchtwasser verbracht hatte. Sie waren faltig und aufgedunsen wie die Hände eines alten Mannes. Und wie bei einem alten Mann löste sich an einigen Stellen die Haut von seinem Körper. Die Schwester versicherte mir, dass das normal sei. Du wirst schon noch jünger werden, mein Sohn. Ja, das wirst du.
Ich reichte ihn an Nate weiter. Er zählte die Finger und Zehen des Babys. Er betrachtete sein Gesicht, studierte seine Augen, seine Nase und seinen kleinen roten Mund. »Er sieht aus wie du«, sagte er.
Er hatte recht. Er hatte zwar noch nicht seine endgültige Form erlangt, doch ich sah es an den Fältchen um seine Augen. Er sah aus wie ich. Er war ich. Er war ein Teil von mir, den ich zurücklassen würde, wenn ich diesen Planeten einmal verlassen sollte. Ich sah in sein Gesicht, und es war, als würde er sowohl innerhalb als auch außerhalb meines Körpers existieren. Ich drehte mich zu Nate um. Er sah neidisch aus. Nicht boshaft. Nicht eifersüchtig. Bloß erstaunt, als wollte er in diesem Moment ebenfalls fühlen, was ich gerade fühlte. Ich nickte ihm lächelnd zu. Er gab mir ein warmes Lächeln zurück.
Und bald schon war auch ich neidisch. Und zwar auf Nate. Ich hatte gedacht, dass ich mich freier fühlen würde, wenn ich Sonia nicht heiratete. Doch in diesem Moment hatte ich absolut nicht das Gefühl. Ich wusste, dass es Nate sein würde, der mit Sonia und meinem Sohn nach Hause ging, während ich in einer Welt außerhalb der ihren gefangen war. Ich liebte Sonia nicht mehr. Doch sie hatte recht gehabt. Ich wollte ein Teil von etwas sein, das eine Bedeutung hatte. Ich hatte es nur nie wahrhaben wollen. Und nun konnte ich nichts mehr tun, um es rückgängig zu machen. Ich küsste meinen Sohn auf den Kopf und drückte ihn fest an mich. Fünfundvierzig Minuten später kam Sonia im Aufwachzimmer wieder zu sich. Ich gab ihr unseren Sohn, und die letzten neunzehn Stunden fielen von ihr ab. Sie sah aus wie neugeboren.
Nachdem ich das Baby in der Säuglingsstation gewaschen hatte, brachten sie Sonia und ihn in ein neues Zimmer auf der Wöchnerinnenstation. Sonia hatte das Zimmer für sich allein. Es waren keine anderen jungen Mütter zu sehen. Eine Stunde später kam eine Schwester und fragte, ob sie das Baby für einige »Routineblutuntersuchungen« mitnehmen durfte. Instinktiv sprang ich zu ihm hin, schrie »Nein!« und legte schützend den Arm um ihn. Ich hörte geisterhafte Schreie hinter den anderen Türen. Alle sahen mich an, als wäre ich verrückt geworden.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich hatte einen Freund in China.«
Die Schwester sah mich beleidigt an. »In diesem Land werden keine Babys gebrandmarkt, Sir.«
»Das weiß ich doch. Kann ich mitkommen? Das wollte ich damit eigentlich sagen.«
»Natürlich. Wurden genetische Veränderungen an ihm vorgenommen, oder ist er BIO?«
»Bloß gegen Parkinson. Ansonsten ist er BIO.«
»Wunderbar. Kommen Sie mit, Sir.«
Und das tat ich auch. Sie nahmen ihm Blut ab und stachen in seine Ferse, und er kam gesund und munter wieder zurück. Keine Brandzeichen. Keine »Eiskasten-Mum«-Deaktivierung. Es war alles bloß Routine. Genau so, wie sie gesagt hatten. Er wog 3,74 Kilogramm. Er würde ein großer Junge werden. Er würde eine Riese werden.
GEÄNDERT AM:
01.06.2030, 23:58 Uhr
»Wir wollen nicht aggressiv auftreten«
Der Videomitschnitt des Interviews von Chris Manning mit dem russischen Präsidenten wird erst heute Abend um 20 Uhr veröffentlicht, doch es gibt bereits Auszüge des Interviews, die vorab in einem Feed gepostet wurden. Ich habe eine Kopie davon abgespeichert:
Manning: Wir haben zahlreiche – und wenn ich »zahlreiche« sage, dann meine ich in Wahrheit Tausende – Berichte gelesen, die russische Bürgerinnen und Bürger auf ihren Feeds veröffentlicht haben und in denen detailgetreu beschrieben wird, wie die Polizei alle Menschen mit einem Deaktivierungsalter von über fünfzig Jahren exekutiert.
Solowjew: Sie holen sich Ihre Informationen aus den Feeds? Ist das alles, was Sie haben? Welche Legitimierung haben diese Feeds? Sie wissen nicht einmal, ob diese Feeds tatsächlich von russischen Bürgerinnen und Bürgern betrieben werden.
Manning: Wir konnten viele dieser Geschichten verifizieren.
Solowjew: Und wie sind Sie dabei vorgegangen? Haben Sie andere Feeds zur
Weitere Kostenlose Bücher